Adorno portrait
Adorno (1903-1969)

Adorno to Horkheimer about
Herbert Marcuse

May 13, 1935 letter
London to New York

2003 review articles archived on the
Adorno Page of the Official Herbert Marcuse website,
June 11, 2005


On May 13, 1935 Theodor W. Adorno, then in London, wrote a letter to Max Horkheimer, head of the Institute for Social Research in New York. In it he made a nasty remark about Herbert Marcuse--that he would be a 'fascist if his Jewish background didn't prevent him' (ein "durchs Judentum verhinderter Faszist") who should be thrown out of the Institute for Social Research.
Horkheimer wrote back with a stern rebuke.
Upon the publication of Adorno's letters in 2003 the remark was mentioned by several commentators in German newspapers. Two such articles are archived below.

Richard Klein on Adorno-Horkheimer correspondence, Die Welt, May 24, 2003
Micha Brumlik on Hans Jonas' memories, Frankfurter Rundschau, May 2003

Die Welt, May 24, 2003 (back to top)

Buch der Woche: Wissenschaftsmanager und Prinzenkind

Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Briefwechsel, Bd. 1: 1927-1937. Suhrkamp, Frankfurt/M. 600 S., 49,90 EUR.

Nur gemeinsam konnten sie ihr Institut für Sozialforschung am Leben erhalten, aber in persönlicher Hinsicht hatten sie viele Schwierigkeiten miteinander: Max Horkheimers Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ist das Dokument einer konfliktbeladenen Zweckgemeinschaft in schwieriger Zeit

von Richard Klein

Mit dem Haupt des damaligen Instituts für Sozialforschung, Max Horkheimer, hat Theodor W. Adorno, genialischer Chefdenker der Frankfurter Schule, die umfangreichste Korrespondenz seines Lebens geführt. Dieser Briefwechsel, von dem nun der erste Band erschienen ist, der die Zeit bis zu Adornos Übersiedlung nach New York 1937 umfasst, muss als eines der wichtigsten Dokumente der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts gelten. Er zeugt von den mitunter windungsreichen Bemühungen Adornos, sich den Leitlinien von Horkheimers Institut anzupassen und gleichzeitig seine eigene ästhetische Prägung zu behaupten.

Worum geht es in einem Briefwechsel zwischen Philosophen? "Nur" um Philosophie oder auch um das Drama der Eitelkeiten? Und wenn beides im Mittelpunkt steht, wie bezieht sich dann das eine auf das andere? Lange haben uns die Hüter von Adornos und Horkheimers Werk einzureden versucht, es ginge dort allein um die "Sache". Angesichts so vieler Vertreter der schreibenden Zunft, die Kammerdiener spielen, ist Insistenz auf der "Sache" zwar kaum ganz falsch. Aber rechtfertigt Vulgärpsychologie einen Objektivismus, der sich weigert, zwischen der Eigenart eines philosophischen Denkens und den Lebensbeziehungen von Philosophen relevante Wechselbezüge anzuerkennen?

Ein interessantes Beispiel ist die Sammlung von Benjamin-Briefen, die 1966 Gershom Scholem und Adorno selbst "edierten". Unter dem Anspruch, primär Benjamins Denkleistung im Auge zu haben und Intimes möglichst auszulassen, betrieben die beiden mit den Dokumenten des toten Freundes zum Teil ganz persönliche Politik. Als Haltung hat diese Chuzpe, die nicht wissen wollte, dass sie eine war, in Adorno-orthodoxen Publikationen bis in die 90-er Jahre nachgewirkt. Eine Bemerkung wie die Horkheimers zu Pollock vom 26. 12. 1935 hätte man früher als "sachlich irrelevant" in den Archiven gelassen: "Trotz einer Reihe störender Momente, die in seiner [Adornos!] Persönlichkeit begründet sind, scheint es mir notwendig zu sein, dass ich mit ihm zusammenarbeite".

Wichtig sind solche Stellen, weil sie belegen, wie wenig selbstverständlich es war, dass Adorno und Horkheimer überhaupt zusammengefunden haben. Nicht bloß waren ihre theoretischen Positionen in den 30er Jahren weit auseinander.Vielmehr fällt vor allem in den ersten Briefen die kühle Disziplin auf, die der "Chef" sich auferlegt, um den anderen sowohl als Person ertragen zu können wie als philosophischen Partner auf keinen Fall zu verlieren. Zeitlebens hat Horkheimer Fritz Pollock näher gestanden als Adorno.

Adorno tut zunächst eine Menge, um die Annäherung an "Max" zu torpedieren, nach der sich zu sehnen er doch geradezu leitmotivisch erklärt. Dass er andauernd die intellektuellen Fähigkeiten anderer herabsetzt, zählt dabei noch zu den eher harmlosen Methoden. Als schwerwiegender, weil ins Politische zielend, erweist sich sein Drang nach projektiver Schuldentlastung. So ruht er nicht, bis er für die massiven Kommunikationsprobleme, die zwischen ihm und dem Institut für Sozialforschung 1933/34 bestanden, einen Sündenbock gefunden hat: Nachdem dies mit Pollock schiefgegangen ist, wird die Wortjauche aus Mangel an Alternativen über Paul Tillich ausgekippt: Der habe ihn mit "geheimem (!) Behagen" sadistisch getäuscht.

Unangenehmer noch ist Adornos fixe Bereitschaft, jenseits der Exklusivunion mit Horkheimer - und zwar schon bei den allernächsten Freunden - nichts als Konformismus, Affirmation oder noch Schlimmeres wahrzunehmen, die eigene Anpassungswilligkeit gegenüber dem Institut aber stets zu tabuisieren: Gewiss ist Horkheimer selbst immer wieder zu taktischen Kompromissen bereit, und er fordert solche ausdrücklich auch von anderen: z. B. wenn es um Sprachregelungen gegenüber "Respektspersonen in Europa" geht, "auf die wir uns bei Hilfsaktionen für Gefangene ... verlassen können". (24. 12. 1937) Was bei Horkheimer aber Konsequenz einer weitgehend kalkulierten Diplomatie öffentlicher Selbstdarstellung ist, hat bei Adorno durchweg die Gestalt eines Ausagierens paranoider Konfliktneigungen. Adolf Lowe geht ihm glatt als "sozialdemokratischer Novemberverbrecher" über die Lippen. Paul Ludwig Landsberg, der später im KZ Oranienburg zu Tode kam, wird als "notdürftig verhinderter Gleichgeschalteter" beschimpft, "der nur beweisen möchte, dass auch die lieben Juden Blut und Boden haben". Und über Herbert Marcuse heißt es am 13. 5. 1935, er sei ein "durch Judentum verhinderter Faszist", der aus dem Institut geworfen gehöre. Horkheimers Antwort auf diesen Brief ähnelt der Mahnung des Shakespearschen Königs an seinem Sohn: "Sie urteilen darin über Angelegenheiten des Instituts, ohne in den letzten Jahren in enger Beziehung zu ihm gestanden zu haben." Not so fast, young man!

Trotzdem wäre es nicht nur im Hinblick auf die Philosophie, sondern auch psychologisch verfehlt, in Adorno allein das böse, verwöhnte, rachsüchtige Prinzenkind zu sehen, das er zweifellos auch war. Seine Art, Ressentiments auszutoben, hat als Kehrseite eine geradezu rührende Anhänglichkeit und Treue zu den wenigen Menschen, die er schätzt und an denen ihm ernsthaft liegt. Das sind, außer Horkheimer, vor allem die, die er ans Institut binden will, um ihnen die Lebensgrundlage zu sichern und zugleich das Institut mit eher "ästhetischen" Denkentwürfen geistig auf Vordermann zu bringen: Kracauer, Sohn-Rethel, Bloch und natürlich Benjamin, allesamt genial(isch)e Sonderlinge, die um akademische Zirkel einen Bogen machten und deren Kommunikationsfähigkeit nicht zuletzt aufgrund eigener, leidvoller Erfahrung mit solchen Zirkeln wenig entwickelt war. Unbeirrt wirbt Adorno um jeden einzelnen von ihnen, auch oder gerade weil er weiß, dass Horkheimer selbst Benjamin zunächst bloß für einen rätselhaft begabten Literaten hielt. Dass er Horkheimer von Sohn-Rethels Entwurf einer "materialistischen Erkenntnistheorie" nicht überzeugen kann, schmerzt ihn, und so unterwürfig er sich sonst auch gibt, nimmt er hier, wo es um substanzielle theoretische Differenzen geht, kein Blatt vor den Mund.

Aufschlussreich, aber auch verwirrend sind die Briefe, die um seinen früheren Lehrerfreund Siegfried Kracauer kreisen. Adorno macht diesen einerseits schlecht, wo er nur kann, mokiert sich über sein neurotisches Verhalten, seine "Verfolgungsfantasien" und "narzißtischen Aggressionen". Horkheimers "Affekte gegen Kracauer" seien natürlich berechtigt, "und glauben Sie mir: die meinen sind nicht anders." Trotzdem überwiege zuletzt sein "Mitleid" mit dem Mann. Das klingt wenig anziehend. Mit solcher Wortwahl versucht Adorno jedoch, Kracauer etwas Gutes zu tun. Nachdem er anfangs über ihn mit negativen Bewertungen nur so herfällt, schlägt er am Ende entschieden eine Zusammenarbeit vor, von der sicher sei, "dass man ... eine anständige Sache wird herausbekommen können" (23. 3. 1937). Dieses fast absurde Wechselbad von Urteilen wie Emotionen war Adornos Art, taktisch zu sein.

Etwas anders liegt der Fall bei Benjamin. In ihm sieht Adorno, bei aller Inbrunst im Werben um Horkheimer, die intellektuelle Goldgrube, die das Institut von allzu simplem Basis-Überbaudenken in Sachen Kunst- und Kulturtheorie reinigen soll. Dezidiert ermutigt er Benjamin, seine Passagen-Arbeit von den historisch-soziologischen Kategorien der New Yorker Truppe abzugrenzen: "Wie ich es für ein wahres Unglück hielte, wenn Brecht auf diese Arbeit Einfluss gewänne, so betrachtete ich es als Unglück, wenn hier dem Institut Konzessionen gemacht würden." (20. 5. 1935) Horkheimer hingegen sagt er fast das Gegenteil. Zuerst heißt es, Benjamins Plan sei "zu sehr mit Metaphysik belastet", um "dem Arbeitsplan des Instituts sich einzufügen". (8. 6. 1935) Dann revidiert Adorno diese Einschätzung und erklärt, die Arbeit sei nun aber im Begriffe, genuin materialistisch zu werden, sogar den "Charakter der metaphysischen Improvisation" habe sie inzwischen verloren.

Max Horkheimer war eine ungewöhnliche Persönlichkeit, die eine Fülle von Begabungen in sich vereinigte: Philosoph, Unternehmer, Wissenschaftsmanager, Finanzier, Diplomat und Sozialfürsorger. Die Bände seiner (bereits vor einigen Jahren erschienenen) Briefausgabe zeigen ein extrem breites Spektrum an Interessen und Aktivitäten, eine Welthaftigkeit und Weltläufigkeit, die Adorno vollständig abgeht. Für die Emigrationsforschung bilden sie eine fast unversiegbare Fundgrube. Horkheimer korrespondierte und kommunizierte mit Emigranten und Naziopfern in aller Welt. Und er verstand es, sehr unterschiedliche Köpfe als Mitarbeiter an sich zu binden. Wir verdanken ihm auch großartige Texte.

Umso auffälliger, dass Horkheimer sich gegenüber Adorno zunächst nur sehr sparsam auf theoretische Grundsatzdiskussionen einlässt. Adornos Briefe sind häufig regelrechte Abhandlungen, er quillt vor Produktivität über. Bis auf wenige Ausnahmen antwortet Horkheimer aber meist zurückhaltend und pragmatisch. Dass Adorno, wenn er einmal Differenzen markiert, von einer "ausstehenden Diskussion zwischen Ihnen und mir" spricht, ist bezeichnend. Die Unterschiede betreffen das Verständnis von "Materialismus" und "Metaphysik", den Status der "immanenten Kritik" und die Beziehung zur Theologie. Während Horkheimer die beiden ersten Begriffe etwas holzschnittartig entgegensetzt, als handele es sich um Parteiprogramme, hält Adorno das von vornherein für unhaltbar. Aber er sagt dies Horkheimer nicht direkt, sondern nur verpuppt über seinen beharrlichen Versuch, Benjamin ans Institut zu bringen.

Mit Benjamin hängt auch die zweite Differenz zusammen: Adorno ist der Überzeugung, dass das Institut sich zu wenig mit besonderen Gegenständen auseinandersetzt, dass seine Vorstellung von "kritischer Theorie" die Notwendigkeit einer phänomenologischen Versenkung in Individuelles nicht zureichend deutlich gemacht habe. Horkheimer hingegen hält den Versuch einer "immanenten Liquidation des Idealismus", den Adorno mit seiner Husserlarbeit unternimmt, bei aller Bewunderung der darin geleisteten Denkarbeit im Grunde für Professorenphilosophie, für akademische Tüftelei, und verweigert die Publikation. Angesichts des extrem hermetischen Stils dieses Textes kann man ihm das zwar nachfühlen. Gleichwohl zeigt sich hier bei eine kreative Dynamik des Adornoschen Philosophierens, die über den Denkhorizont des Instituts auch dort hinausreicht, wo ihre ersten phänomenologischen Experimente noch mehr scheitern als gelingen.

Schon an der Arbeit über Richard Wagner freilich nimmt Horkheimer ganz anderen Anteil. Es ist verblüffend, wie sehr die Thematik dieses Buches von den Problemen der Emigration durchdrungen ist: Unterwerfung oder Widerstand, Opposition oder Überlaufen, geschichtliches Gedächtnis oder Zerstörung des Zeitbewußtseins. Wagner erscheint primär gerade nicht, wie später behauptet wurde, als der "Klassiker des Dritten Reichs", sondern tendenziell selbst als Emigrant (der er ja auch war). Dazu Adorno: "Man möchte wie der Wotan in der Götterdämmerung sich hinsetzen und schweigend zuschauen."


Frankfurter Rundschau, May 10, 2003 (back to top)

Das politische Buch: Vom Alltag des Geistes
Pünktlich zum hundertsten Geburtstag von Hans Jonas liegen seine aus Gesprächen rekonstruierten "Erinnerungen" vor
Von Micha Brumlik

Das Buch
Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander.Geleitwort von Lore Jonas. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 503 Seiten, 24,90 �.

In Saul Bellows Roman Ravelstein, der vom Sterben des politischen Philosophen Allen Bloom handelt, lässt der Autor seinen schwatzsüchtigen Helden bemerken, dass bei ihm Klatsch eine Form der Sozialgeschichte sei. Viel war es nicht, was in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt mit der entstehenden ökologischen Bewegung verband. Eines immerhin war ihnen gemeinsam: ein aus den Tiefen der deutschen Romantik, der Zivilisationskritik und einer aufs Pflichtgemäße verkürzten Kantischen Philosophie stammendes Gefühl dafür, Verantwortung übernehmen zu müssen. Es war der alte Hans Jonas, eines jener jüdischen "Kinder Heideggers" (Richard Wolin), der dieser Stimmung die Worte lieh.

Zu den jenen Schülern Heideggers zählten neben Jonas Werner Marx, Karl Löwith, Günther Anders, Herbert Marcuse, Leo Strauss, Elisabeth Blochmann und last, but not least Hannah Arendt. Dem deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum entstammend, dem traditionell religiösen Judentum entfremdet und auf der Suche nach einem Selbstverständnis, das ihnen erfahrener Ablehnung zum Trotz einen Ort erst in der deutschen, dann in einer Menschheitsgesellschaft ermöglichen sollte, artikulierten sie die Widersprüche der Moderne, ohne sie doch lösen zu können. Gewiss lässt sich ihr Denken nicht auf die Bedingungen ihrer Herkunft reduzieren - doch ohne Blick auf diese Herkunft dürften ihre Argumente eigentümlich stumpf bleiben und das nicht zum Vorschein kommen, was sie doch alle erlitten: das Schicksal der Entwurzelung als der Conditio humana jener Moderne.

Jonas Erinnerungen liegen als von dem Judaisten Christian Wiese sorgfältig kommentierte Verschriftung autobiographischer Gespräche vor, die Rachel Salamander in den neunziger Jahren mit Jonas geführt hatte. Salamander, Kind jüdischer DPs aus Polen, die als Kind nur Jiddisch sprach und mit ihren Buchhandlungen, Salons und Zeitschriften zu einer Erneuerin jüdischen Geistes wurde, ist damit ein Brückenschlag über den Abgrund, weit zurück ins neunzehnte Jahrhundert, in die auf immer versunkene, weil von den Nationalsozialisten zerstörte Welt des klassischen deutschen Judentums gelungen.

Jonas Erinnerungen präsentieren ein Stück deutsch-jüdischer Alltagsgeschichte und ein Kapitel gelebter Philosophie, sie enthalten indezenten Klatsch so gut wie bewegende menschliche Szenen und wirken bisweilen überaus komisch. Der Knabe, der die Propheten ebenso studierte wie Nietzsche, von Kant ebenso beeindruckt war wie von Martin Buber, wurde gegen sein Elternhaus zum Zionisten. Als 1920 bekannt wurde, dass sich ein Dr. Sally Löb aus Vallendar in Mönchengladbach niederlassen wollte, eilte diesem schon ein Ruf voraus: "Es kommt ein jüdischer Nervenarzt. Und der ist ein Zionist." Jonas stellte sich diesem Mann - "der Möbelwagen stand noch vor seiner Tür" sofort zur Verfügung. Die Ortsgruppe Mönchengladbach der Zionistischen Vereinigung für Deutschland bestand aus zwei erwachsenen Ehepaaren, der Tochter eines Hauptlehrers, die einen Mann "aus der Unterschicht geheiratet hatte" sowie einigen Jugendlichen, die Geld mit der blauen Büchse des jüdischen Nationalfonds sammelten.

Obwohl sich der junge Jonas bald zu einem militanten, auch militärisch interessierten Zionisten entwickelte, ging es zunächst zum Studium nach Freiburg und Berlin, wo er bei Husserl und Heidegger hörte. In Berlin studierte er an der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" und hielt sich, vom Antisemitismus ebenso bedrängt wie von nationaljüdischen Überzeugungen getragen, ausschließlich unter Juden auf: etwa im Verein Makkabäa, der sich im Unterschied zu den "Muskeljuden" eines jüdischen Rudervereins für eine Vereinigung von "Intelligenzjuden" hielt. Die wenigen, die sich dem Denken verschrieben hatten, fanden sich bald. So auch Hans Jonas und Leo Strauss.

War das intellektuelle Vorkriegsjudentum eines unter mehreren Saatbeeten des us.amerikanischen Neokonservativismus? Etwa im Sinne jener giftigen Bemerkung Adornos über Herbert Marcuse, der Marcuse noch 1935 für einen "durchs Judentums verhinderten Faszisten" hielt? Dass der bereits 1932 emigrierte Leo Strauss der geistige Gewährsmann von Bushs Kriegsintellektuellen und des populistischen Antiliberalismus der republikanischen Mehrheitsführer darstellt, steht inzwischen fest. Strauss bildete in Chicago eine Schule, die kaum zufällig solche jüdischen Intellektuellen anzog, die weder zionistisch noch religiös, aber atheistisch und ethnisch fühlten und sich seit dem Vietnamkrieg von einer hedonistischen Linken bedroht wähnten.

Jahre zuvor jedenfalls beichtete Strauss dem Freund in der britischen Emigration sein Leid: Bei einem Spaziergang 1934 offenbarte er, dass er sich schrecklich fühle. Warum? "Es war Jom Kippur, der Versöhnungstag, und wir waren beide nicht in der Synagoge, sondern gingen im Hyde Park spazieren." Strauss litt unter diesem Glaubensverlust mit Folgen, die sich bis heute nachzeichnen lassen. Jedenfalls war er ein Leben lang bemüht, an die Stelle des verratenen Gottes eine andere Größe zu setzen, die Sicherheit bieten sollte. "Ich habe so etwas", protokolliert Jonas Strauss'' verzweifelte Worte "wie einen Mord begangen oder einen Treueid gebrochen oder mich an etwas versündigt."

Anders Jonas: Er hatte seine jede Weltablehnung kritisierende Dissertation zur Gnosis 1929 in Marburg abgeschlossen, wo er seit 1924 bei Heidegger hörte und mit Hannah Arendt, die bald dessen Geliebte werden sollte, Rudolf Bultmanns neutestamentliches Seminar belegte. Dem Autobiographen geht der Mund über, wenn er wissen lässt, dass es niemals eine "physische Liebesbeziehung" zwischen Arendt und ihm gegeben habe und wenn er als "Confidant" Arendts haarklein schildert, wie Heidegger in seiner Sprechstunde vor ihr auf die Knie gesunken sei. Der Rückblick auf die Marburger Zeit kann Jonas Gewissheiten nicht erschüttern: Heidegger war ihm zufolge kein persönlicher Antisemit, allenfalls seien ihm die vielen jüdischen Schüler "unheimlich gewesen" und: Mit Ausnahme Günther Sterns seien ohnehin alle Heideggerschüler "apolitisch" gewesen, wobei Arendt keine Ausnahme bildete: "Man kann sich gar nicht vorstellen", resümiert Jonas jene Jahre, "wie fern der Welt man sich in Marburg bewegen konnte, ohne dem Zeitgeschehen überhaupt Beachtung zu schenken."

Jonas politisches Erwachen kam spätestens in der palästinensischen Emigration, als Großbritannien in Reaktion auf den Überfall auf Polen dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Er verfasste darauf einen erstmals in diesen Erinnerungen abgedruckten Aufruf "Unsere Teilnahme an diesem Krieg", in dem er hellsichtig diagnostizierte, dass es um die Vernichtung der Juden gehen werde, in denen der Nationalsozialismus die Menschengattung schlechthin negiere. Der Kriegsausbruch beendete das trügerische Idyll eines intellektuellen Lebens deutsch-jüdischer Emigranten in Jerusalem, ihrer Amouren und ihres Diskussionszirkels, an dem unter anderem Gerschom Scholem beteiligt war, dem Jonas das eine oder andere humoristische Gedicht widmete und an dessen Rande er seine Frau Lore kennenlernte, der er nach der Hochzeit von der Front - Jonas trat in die britische Armee ein, aber Philosoph bleibt Philosoph - in diesem Band abgedruckte "Lehrbriefe" zum Verhältnis von Leben und Geist zusandte.

Hans Jonas erzählt ein gelungenes Leben und fand auch noch auf das Grauen der Vernichtungslager und die Ermordung seiner Mutter eine philosophisch überzeugende Antwort. Seine spät entwickelte Lehre von der selbst gewollten Ohnmacht Gottes überzeugt im Begriff, lässt das religiöse Bedürfnis indes unbefriedigt. Die Stationen des weiteren Lebensweges nach dem Kriege: Reisen im Nachkriegsdeutschland, seine wechselhafte Freundschaft mit Arendt, akademische Tätigkeiten in Kanada und den USA sowie die zwar späte, aber triumphale Anerkennung in Deutschland zeugen von einem Mann, der das Glück hatte, der Lebensbejahung treu bleiben zu dürfen.

Ebenso treu blieb er freilich dem autoritären Habitus des Kaiserreichs: Ein Demokrat wurde aus Jonas ebenso wenig wie aus den anderen SchülerInnen Heideggers. Am Ende des Kapitels über das Prinzip Verantwortung beklagt Jonas, dass kein Geringerer als Karl Popper ihn beschuldigt habe, faschistische oder autoritäre Positionen zu vertreten: habe er doch lediglich offen ausgesprochen, dass "Demokratie und Individualismus nicht unter allen Umständen die den Herausforderungen der Gegenwart angemessenste Herrschafts- und Lebensform" seien. Wie relativ das alles ist, wird an einer weiteren Anekdote über den von Jonas als "Mussolinianhänger" bezeichneten Strauss deutlich: Der an esoterisches Schreiben glaubende Philosoph hielt Jonas' kritische Auseinandersetzung mit der Gnosis in Wahrheit für das verkappte Propagieren einer revolutionären Idee. Der Geist - so ließe sich kurz vor Pfingsten bemerken - weht eben, wie er will. Dass er gleichwohl einen Sitz im Leben hat, wird an den Erinnerungen Jonas' deutlich wie kaum je zuvor an der Biographie eines Philosophen.


archived by Harold Marcuse on the marcuse.org/herbert website, June 11, 2005.
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