Thomas-Morus-Akademie, Nr.13, Mai 2004, S. 6

Eine Freundschaft in unruhigen Zeiten

Herbert Marcuse und Rudi Dutschke
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Jansen about Dutschke and MarcuseEr galt als der "Vater der Studentenbewegung", und in der Aufbruchstimmung Ende der 60er Jahre befasste sich auch das damalige"Primanerforum" der Thomas-Morus-Akademie mit "Mao, Marx, Marcuse" - so der damalige Tagungstitel. Seit seinem Tod vor 25 Jahren ist es stiller um Herbert Marcuse geworden. Dabei sind seine Gesellschaftsanalysen nach wie vor aktuell, und das auch über alte ideologische Gräben hinweg. So griff der Trierer Altbischof Hermann Josef Spital in seiner Silvesterpredigt 1999 zentrale Thesen aus Marcuses Hauptwerk "Der eindimensionale Mensch" zustimmend auf: "Gleichwohl bleibt der Zwang zur Eindimensionalität, der von unserer technisierten westlichen Gesellschaft ausgeht, ein bedrängendes Problem." Auf einer Akademietagung am 7. Februar 2004 stellte Peter-Erwin Jansen, Herausgeber von Marcuses "Nachgelassenen Schritten", ein bislang wenig beachtetes Kapitel der Geschichte der Studentenbewegung vor, die Freundschaft zwischen Herbert Marcuse und dem Studentenführer Rudi Dutschke.

Der wohl aufsehenerregendste Aufenthalt Marcuses in Deutschland war seine Teilnahme an einer vom Berliner SDS im Juli 1967 durchgeführten Veranstaltungsreihe, die die Chancen des außerparlamentarischen Protests diskutierte. Im überfüllten Audimax der Freien Universität Berlin lauschten die Teilnehmer dem schlohweißen Philosophie-Professor aus San Diego. Marcuse war überrascht von der enormen Beteiligung. An seinen Freund Leo Löwenthal schrieb er: "Lieber Leo, es gibt so viel zu erzählen - zu viel, um es Dir zu schreiben! Eine sehr aufregende Woche in Berlin, wo ich wie ein Messias empfangen wurde, ich sprach zu 5000 Studenten. Dann ein komplett verrückter, teilweise psychedelischer Kongress über die 'Dialektik der Befreiung' in London." (Brief an Löwenthal vom 10. August 1967) Im Antwortbrief schreibt Löwenthal augenzwinkernd: "Lieber Herbert, die Bezeichnung 'Messias' in Deinem lieben Brief vorn 10. August fügt Dir nun ein weiteres 'M' hinzu. In einer deutschen Zeitung sah ich einen Artikel, der über die neue 'M'-Tradition berichtete, nämlich: Marx, Mao und Marcuse! Das macht mich zutiefst ehrfürchtig!" (Brief an Marcuse vom 16. August 1967)

An einer Podiumsdiskussion in Berlin nahm neben Marcuse auch Rudi Dutschke teil. Aus der Begegnung Marcuses mit dem Protagonisten der Studentenbewegung entstand eine Freundschaft, die bis zu seinem Tod am 29. Juli 1979 in Starnberg anhielt. Die Freundschaft zwischen beiden wurde nach den Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 enger und sollte bald auch in San Diego bekannt werden. Dort machte das Gerücht die Runde, dass Dutschke als Assistent Marcuses an der kalifornischen Universität eine Anstellung finden sollte. Anlass genug für die amerikanischen Medien, ein revolutionäres Zentrum an der Universität der konservativen Marinestadt zu vermuten. Ein deutscher Revolutionär, eine schwarze Bürgerrechtlerin (Angela Davis) und ein jüdischer Marxist (Marcuse) an einer amerikanischen Universität, das war zuviel für einige im von Gouverneur Ronald Reagan regierten Kalifornien.

Nachdem die britische Regierung im Dezember 1970 Dutschke den weiteren Aufenthalt in England untersagte, dachte Marcuse tatsächlich daran, Dutschke in San Diego eine Arbeitsmöglichkeit zu verschaffen. Schon im November 1970 hatte Dutschke angedeutet: "Mit größter Wahrscheinlichkeit werden wir in wenigen Wochen England verlassen müssen. Der Rebell, und mag er noch so angeschossen sein, war, ist und bleibt für das herrschende System ein grundlegender Feind." Aber auch einen ersten Lichtblick, eine mögliche dauerhafte Bleibe in seiner späteren Exilheimat, kann Dutschke übermitteln: "Wohin wir dann gehen? Weiß der Teufel, vielleicht Dänemark." (Brief an Marcuse vom 4. November 1970) Im Februar 1973 berichtet Dutschke Marcuse von einer Vietnamdemonstration in Bonn. Über den Versuch der Veranstalter, Dutschkes Redebeitrag zu zensieren, schreibt er: "Ich lachte sie aus und sagte ihnen: Ich komme aus dem Land des sogenannten Revisionismus, aus der DDR, dort bedeutet Zensur auch gesellschaftliche und politische Macht. Darüber verfügt ihr nicht und werdet sie wohl auch nie erhalten. Geht doch in die DDR." (Brief an Marcuse vom 15. Februar 1973)

Persönliche Begegnungen zwischen Marcuse und Dutschke waren in diesen Jahren selten. Nur am 13. Mai 1968 hatte Herbert Marcuse Dutschke getroffen. Er besuchte den Angeschossenen im Krankenhaus in Berlin. Anschließend hielt er vor 4000 Studenten im Berliner Audimax seinen Vortrag über "Geschichte, Transzendenz und sozialen Wandel".

Aus gesundheitlichen Gründen war dem bereits 80-jährigen Marcuse die Teilnahme an der Solidaritätsveranstalturig"Freiheit für Rudolf Bahro", die im November 1978 in Berlin mit vehementem Engagement Dutschkes stattfand, nicht möglich. Rudolf Bahro war auf Grund seines Buches "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus", das 1977 im Westen erschienen war, in der DDR zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Bahros Buch war Gegenstand der Briefe des Jahres 1978. In einem dieser Briefe fragt Marcuse nach einem Projekt, das Dutschke schon länger bewegte: "Wie geht es Dir: Hast Du Deine Idee einer neuen Partei (vorläufig) fallen gelassen?" (Brief an Dutschke vom 15. Oktober 1978)

Dutschke hatte diese Idee nicht fallen gelassen und verfolgte sie weiter. Nachdem Bahro infolge weltweiter Solidaritätsbekundungen im Oktober 1979 aus der Haft entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben worden war, beteiligten sich beide an der Gründung der Partei DIE GRÜNEN im November 1979.

Mit einem Brief im März 1979 bricht der schriftliche, aber nicht der freundschaftliche Kontakt zwischen Marcuse und Dutschke ab. Aus Dutschkes Tagebuch erfahren wir, wie stark er Anteil hatte an den letzten schweren Tagen Herbert Marcuses. In fast allen Tagebucheintragungen ab dem 10. Juli 1979 erwähnt Dutschke seine Sorge um den gesundheitlichen Zustand Marcuses. Am 25. Juli 1979 besucht Dutschke den bereits schwerkranken Freund im Starnberger Krankenhaus. Im Tagebuch hält er fest: "War bei Herbert im Krankenhaus. In einer solch schlechten Lage habe ich ihn noch nie gesehen, er will sprechen, aber es gelingt ihm nicht." Am 29. Juli 1979 schließlich erfährt Dutschke durch einen Anruf von Sohn Peter Marcuse gegen 21 Uhr vom Tod Herbert Marcuses. Ein halbes Jahr später, am 24. Dezember 1979, stirbt Rudi Dutschke an den Spätfolgen der beim Attentat 1968 erlittenen Verletzung.

Peter-Erwin Jansen

Erstmals gedruckt wird der Briefwechsel von Marcuse und Dutschke im vierten Band des Marcuse-Nachlasses, "Die Studentenbewegung und ihre Folgen", Lüneburg 2004.
(link to nachgelassenen Schriften, vols. 3 & 4)


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