Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.07.1998, Nr. 164 / Seite 38

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Feindanalysen:Der amerikanische Feind, von Marcuse, Herbert

Rezension von Lorenz Jäger

Herbert Marcuse: "Feindanalysen. Über die Deutschen". Hrsg. von Peter-Erwin Jansen und mit einer Einleitung von Detlev Claussen. Zu Klampen-Verlag, Lüneburg 1998. 149 S., br., 24,- DM.

18. Juli 1998 Intelligenz und "Intelligence" - der schöne Anklang bildet sich nur im Englischen, wenn auch die Sache selbst weltweit vorkommt. Zu wenig weiß man in Deutschland über die Zeit, als sich ausgewanderte Gelehrte in amerikanischen Regierungsstellen mit der psychologischen Kriegsführung, den Fragen der Besatzungsherrschaft und der Propaganda im Kalten Krieg beschäftigten. Nur die moskautreuen Kommunisten hatten in den sechziger Jahren, als die gebildete Jugend an den Lippen Herbert Marcuses hing, den Denker der Revolte als Ex-Geheimdienstmann verpetzt.

Nun werden Teile der Schriften von damals veröffentlicht. Es sind die grundsätzlichen Äußerungen, nicht die wöchentlichen Berichte, die Marcuse aus vielen Quellen für die Mitteleuropa-Sektion des "Office of Strategic Services" zusammenzustellen hatte, auch nicht die Empfehlungen, die er für die Propaganda im Detail gab.

Die "Frankfurter Schule" hatte sich Anfang der vierziger Jahre geteilt. Horkheimer und Adorno gingen an die Westküste; im Osten war der Übergang von der Columbia-University zum Kriegseinsatz für Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Marcuse nahezu fließend. Marcuse kam zum Geheimdienst als einer der besten Kenner der jüngsten Veränderungen in der deutschen Philosophie, die er in den dreißiger Jahren in großen Essays, die den Übergang von der liberalen zur totalitären Gesellschaft erklären wollten, genau verfolgt hatte. Wer dazu die Vielzahl seiner rezensorischen Kurzreferate in der "Zeitschrift für Sozialforschung" durchgeht, sieht einen systematischen Beobachter am Werk, der sowohl die Philosophien der technischen und politischen Mobilmachung kannte wie einzelwissenschaftliche Untersuchungen aus Deutschland zur Psychologie des Soldaten, und der sogar in seiner Besprechung der Doktorarbeit Adam von Trotts zu Solz nahe daran ist, den künftigen Widerstandskämpfer zu identifizieren.

Er trat zunächst in die deutsche Sektion des "Office of War Information" ein. Hier ging es um die Frage, "wie dem amerikanischen Volk der Feind zu präsentieren ist" - so Marcuse in einem Brief. Aus dieser Zeit stammt der Text "Darstellung des Feindes". Gibt es, so fragt Marcuse, ein "das Wesen des Feindes treffendes sprachliches Symbol, einen Oberbegriff"? Das deutsche Volk, so der Befund, dürfe nicht mit den Nazis gleichgesetzt werden, vor allem deshalb, so die paradoxe Behauptung, weil die "technokratische und pragmatische Politik des Naziregimes" die Kluft zwischen der deutschen und der amerikanischen Kultur verringert habe. Marcuses Vorschlag geht in die Richtung einer klassenmäßigen Differenzierung der Propaganda: die "gesellschaftliche und ökonomische Struktur des Nazismus" wird zum Schlüssel. Das Thema der mächtigen Wirtschaftsunternehmen und ihrer Verfilzung mit der Partei müsse die Propaganda beherrschen, die "wahren Nutznießer und Initiatoren der Nazipolitik" sollten angeprangert werden. Ganz im Sinne des "New Deal" empfiehlt Marcuse eine neue Verbindung von Freiheit und sozialer Sicherheit: in Europa habe man Freiheit in den Jahren vor Hitler nur als wirtschaftliches Chaos erlebt.

Damit konnte Marcuse unter der Regierung Roosevelt auf begrenzte Sympathie stoßen - zu den Zielen der amerikanischen Armee war der Konflikt hingegen programmiert: Wer auf den Widerstand der deutschen Arbeiter hoffte, mußte anders operieren als jene, die die militärische Niederwerfung des Gegners planten. Es war ein Dilemma, das Franz Neumann 1944 auf den Begriff brachte: Für die Alliierten sei die Zerschlagung und Besetzung Deutschlands notwendig; genau damit aber werde eine Widerstandsbewegung im Innern unmöglich gemacht, die eine langfristige Befriedung Deutschlands zum Ziel hätte. Erst als 1945 das ganze Ausmaß der deutschen Kriegsverbrechen bekannt wurde, änderte sich die Haltung der Sektion Mitteleuropa. Aber davon erfährt man in dieser Ausgabe nichts. Man muß das schöne Buch von Barry M. Katz nachschlagen, "Foreign Intelligence. Research an Analysis in the Office of Strategic Services 1942- 1945" (1989), in dem ein ganzes Kapitel dem Kriegseinsatz der Frankfurter Schule gewidmet ist, um sich des Kontextes zu vergewissern, in dem die Texte Marcuses zum Sprechen kommen.

1943 bewarb sich Marcuse bei OSS; mit dem Memorandum "Die neue deutsche Mentalität" stellte er sich vor. Die Studie fragt nach den Quellen der deutschen Kampfmoral. Die Antwort bilden eine Theorie der Technokratie und eine Sozialpsychologie des sachlichen Menschen. Der Nationalsozialismus sei nichts anderes als die entschiedene Modernisierung des Kapitalismus unter den Bedingungen gnadenloser Expansion. Es ist ein eigentümlich amerikanisierter Faschismus, der in Marcuses Analysen erscheint: so, wenn er die Weltanschauung der Nazis einer "gigantischen Anzeigenkampagne" vergleicht, oder wenn er Hitler "das lebende Symbol der Leistungsfähigkeit" nennt. Zwanzig Jahre später entwarf der "Eindimensionale Mensch" das Gegenbild eines faschisierten Amerika.

Um der industriellen Leistungsfähigkeit willen habe Deutschland die Grenzen von Staat und Gesellschaft verwischt, die Freizeit der Planung unterworfen, die Tabus der traditionalen Gesellschaft in seinen Jugendverbänden aufgehoben, ja sogar - dies die merkwürdigste Formulierung - das Individuum emanzipiert. Das gesamte Problem des Nationalsozialismus wird hier auf die Fläche der industriellen Arbeit abgebildet. Es ist nur konseqent, wenn auch der Anhang zu diesem Memorandum vor allem die Propaganda unter den deutschen Arbeitern anvisiert.

Morgen, am 19. Juli, wäre Marcuse hundert Jahre alt geworden. Wer 1898 geboren wurde, erlebte als Kind die Realisierung der schönsten Utopien technischer Bewegung, der Zeppeline und Flugzeuge, der Wuppertaler Schwebebahn; aber was dann folgte, war das erste völlig technisierte Inferno. Kein Zufall, daß dieser Generation sowohl geniale, politisch verstrickte Pioniere der Technokratie entstammten wie der Flugzeugbauer Willy Messerschmidt - ein paar Wochen älter als Marcuse, ist er das ideale Exempel von dessen Theorie -, und zugleich deren schärfste Kritiker wie Friedrich Georg Jünger, der Anfang der vierziger Jahre seine Abrechnung mit der "Perfektion der Technik" verfaßte.

In Marcuses Memoranden findet sich keine ausdrückliche Erwähnung des Völkermords an den europäischen Juden. Gern wüßte man, ob dieser Ausfall mit internen Richtlinien des OSS im Zusammenhang steht. Aber auch so kann man über Marcuses Motive spekulieren. "Wir sollten uns", so kommentiert er im Juli 1943 in einem Brief an Horkheimer dessen Antisemitismus-Forschungen, "wieder der Aufgabe zuwenden, den wahren Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Christentum aufzudecken. Was geschieht, ist nicht bloß ein verspäteter Protest gegen das Christentum, sondern auch dessen Vollendung, zumindest in allen seinen finsteren Zügen. Der Jude ist von dieser Welt, und genau diese Welt muß der Faschismus dem totalitären Terror unterwerfen." Damit war nun allerdings keine amerikanische Politik zu machen. Was Marcuse 1945 empfunden haben muß, als die Miltärregierung die NSDAP auflöste, kann man ahnen: Er selbst hatte das Dekret formuliert. Aber davon steht nichts in diesem Buch, das, wenn es mit rechten Dingen zugeht, nur die Vorbereitung einer gründlichen Edition darstellen sollte. LORENZ JÄGER

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