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TIM B. MÜLLER: Review

THEODOR W. ADORNO/MAX HORKHEIMER: Briefwechsel 1927-1969. Band 4: 1950-1969. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006. 1078 Seiten, 49,90 €.

in: Süddeutsche Zeitung, 5. Oktober 2004

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uploaded Nov. 12, 2007


Adorno-Horkheimer, Briefe Bd. 4

Lag hier das Kriegsbeil begraben? Die Polizei räumte Anfang 1969 das von Studenten besetzte Frankfurter Institut für Sozialforschung. Der alte Theoriekamerad Herbert Marcuse schlug sich da auf die Seite der Studenten, was den Institutsdirektor Theodor W. Adorno um so mehr schmerzte, als Marcuse seine alten Freunde nicht einmal nach ihrer Version der Geschichte gefragt hatte.

Es war in der Tat das Verhältnis von Theorie und Praxis, das den kalifornischen und den Frankfurter Flügel der Kritischen Theorie schließlich entzweite, nach Jahrzehnten fruchtbarer Zusammenarbeit. Das bezeugt auch dieser Band, der die Korrespondenz Adornos und Max Horkheimers von 1950 bis 1969 dokumentiert und dabei Marcuse an entscheidender Stelle als Dritten im Bunde berücksichtigt.

„Ich würde Dir auch konzedieren, dass es Momente gibt, in denen die Theorie von der Praxis weitergetrieben wird“, schrieb Adorno im Mai 1969 Marcuse, „weder jedoch herrscht heute objektiv eine derartige Situation, noch hat der öde und brutale Praktizismus, dem jedenfalls wir hier konfrontiert sind, mit Theorie das mindeste zu schaffen. Das stärkste, was du anzuführen hast, ist, die Situation sei so grauenhaft, dass man versuchen müsse auszubrechen, auch wenn man die objektive Unmöglichkeit erkenne.“ Dann bricht die Geschichte in den Text ein: „Wir, Du nicht anders als ich, haben seinerzeit eine noch viel schauerlichere Situation, die der Ermordung der Juden, aus der Entfernung ertragen, ohne dass wir zur Praxis übergegangen wären, einfach deshalb, weil sie versperrt war.“

Genau das traf allerdings nicht zu. Auch wenn es dem jugendbewegten siebzigjährigen Marcuse kaum bewusst war: Der Geist des Antifaschismus hatte emigrierte Linksintellektuelle in Scharen zu Engagement und Kriegseinsatz auf Seiten der USA getrieben. Ihre Praxis reichte von politischen Analysen bis zum Fallschirmabsprung hinter den deutschen Linien. Marcuse trat wie sein Freund und Mittheoretiker Franz Neumann in die Dienste des Office of Strategic Services, Neumann gar als Leiter der „War Crimes Unit“, die Beweismaterial für die Nürnberger Prozesse sicherstellte und auswertete. Adornos Gewissheit, die Praxis sei „versperrt“ gewesen, widersprach Marcuses Erfahrung.

Dieser Briefband versteckt seine Schätze zwischen hunderten Seiten von „Müll“, wie Adorno selbst die akademische Verwaltungsarbeit nannte. Die Selbstironie markierte einen wunden Punkt. Günther Anders hielt Adorno in einem amüsanten Brief 1963 Professorenhabitus und „betont bürgerliches Auftreten“ vor, was sich kaum mit dem „Revolutionär“ der Theorie vertrage. Seine politische Abstinenz räche sich, indem Adorno versuche, „mit sprachlichen Mitteln etwas Aktionsähnliches zu erzeugen, mindestens dem Leser etwas anzutun“.

Das sind Grundmuster der Adorno-Kritik bis heute. In den Briefen bestätigt sich, wie sehr Adorno akademische Besitzstandswahrung betrieb. Die völlige Identifikation mit dem Institutsbetrieb beschwor am Ende nicht nur den unvermeidlichen Konflikt mit den randalierenden Studenten, sondern auch den Bruch mit alten Mitstreitern wie Marcuse und Leo Löwenthal herauf. Viele geistreiche Bemerkungen in den Briefen entkräften jedoch den Spott über Adornos Sprache. Wie er, witzig, messerscharf und politisch klug, auf Edward Shils entgegnet, einen Impresario der liberalen Intellektuellen des Kalten Krieges, bis sich dessen schlampig durchdachte Kritik an der „Autoritären Persönlichkeit“ in Luft auflöst – das sind bislang kaum bekannte Seiten Adornos als öffentlicher Intellektueller. Wenn er wollte, konnte er ein glänzender politischer Polemiker sein.

Das politische Denken des späten Horkheimer enthüllt der berüchtigte Brief an Adorno vom September 1958, in dem Horkheimer auf befremdliche Weise mit dem jungen Jürgen Habermas abrechnet. Dabei schwört Horkheimer der Revolution ab, diese bedeute „den Übergang zum Terror, welcher Schattierung auch immer“. Wie Adornos kritische Anmerkungen am Rand offenbaren, trennten sich damit die politischen Wege der Philosophenfreunde, auch wenn beide es bis zu ihrem Lebensende zu kaschieren suchten. Horkheimers Schluss ist konsequent: „Was es heute zu verteidigen gilt, scheint mir ganz und gar nicht die Aufhebung der Philosophie in Revolution, sondern der Rest bürgerlicher Civilisation zu sein.“ Zum Schlüsselereignis seiner politischen Erinnerung stilisiert er „die scheußliche Ermordung der Zarenfamilie mit den Kindern, die der Auftakt zum endlosen Terror war“.

Das ist die Sprache eines politischen Renegaten. Sie findet ihre Entsprechung in Horkheimers außenpolitischer Haltung. Anschwellende Empörung über die „östlichen Henker“ wird in der antitotalitären Logik seines Zeitalters begleitet von Unterstützung der US-Politik. Horkheimer war ein „Kalter Krieger“, der selbst dem Krieg in Vietnam mehr als nur Verständnis entgegenbrachte. Als ihn das zum Angriffsziel der Studenten macht, muss Adorno 1967 mit einem heute wieder vertrauten Argument sekundieren: „Was wird in Südvietnam geschehen, wenn die Amerikaner wirklich den Krieg aufgeben und sich zurückziehen? Wahrscheinlich doch ein Massaker an Millionen von Menschen, das man sich kaum vorstellen kann.“ Und wer „gegen das Grauen der Napalmbomben“ protestiere, müsse ebenso demonstrieren „gegen die unsäglichen Folterungen chinesischen Stils, welche die Vietcong dauernd verüben. Denkt man das nicht mit, so hat der Protest gegen die Amerikaner etwas Ideologisches. Auf eben jenen Punkt legt Max mit vollem Recht großen Wert.“

Adorno fand bis zuletzt seine politische Heimat auf der Linken. Im Juni 1967 bekundet er gleichzeitig seine Solidarität mit dem „toten Berliner Kommilitonen Benno Ohnesorg“ und dem bedrohten Israel, „der Heimstätte zahlloser vor dem Grauen geflüchteter Juden“. Unterdessen wechselte Horkheimer stillschweigend die Fronten. Setzt man die gesellschaftstheoretischen und außenpolitischen Motive zur einer halbwegs kohärenten ideologischen Haltung zusammen, ergänzt sie um die salonrevolutionäre Herkunft, den philosophischen Versuch, über einen Schülerkreis zu wirken, die späte Kritik an der Gegenkultur, so tritt eine ziemlich scharfe politische Physiognomie hervor. Man muss den späten Horkheimer wohl einen Neokonservativen zu nennen – einen klassischen Neokonservativen der fünfziger und sechziger Jahre, nicht zu verwechseln mit dem intellektuell degenerierten Spätstadium, das sich zuletzt als Neocons verkauft hat.

Das größte Verdienst um die politische Kultur der Bundesrepublik erwarben sich Adorno und Horkheimer, als sie den politischen Anstand gegen eine konservative Gelehrsamkeit verteidigten, die erst kurz zuvor ihre braunen Hemden abgestreift hatte. Eine Massenkonversion hochbegabter Naziwissenschaftler hatte mit dem Systemwechsel stattgefunden. Gleich blieb die unbedingte Bejahung der bestehenden Ordnung. Aus glühenden Nazis waren erst skeptische Nazis und schließlich die „skeptische Generation“ von Bundesrepublikanern geworden. Es verwundert kaum, dass Helmut Schelsky und Arnold Gehlen die Hauptgegner waren.

„Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum auch nicht anders haben“, merkt Adorno zu Schelsky an, dem er manches hochschulpolitische Schnippchen schlagen konnte. In einem Gutachten seziert er Gehlens ideologisches Gehäuse, bis nichts als ein klappriges braunes Gerippe übrig bleibt. Gehlens „Bejahung sozialer Gebilde auf Kosten der Menschen läuft auf nicht weniger hinaus als die von nationalsozialistischen Ideologen propagierte These, dass nur das Opfer frei mache“, sein „rabiater Irrationalismus ist offen antihumanistisch“, und als Resümee: „Das gesamte Instrumentarium des Faschismus ist beisammen, nur, gegenüber der völkischen Ideologie, formalisiert und ausgelaugt.“ Wenn der Siegeszug des vorauseilenden Gehorsams der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft nicht vollständig war, wenn sich trotz der vorherrschenden Anpassung an die „Realität“ ein Rest dialektischen Denkens erhalten hat, dann haben wir das vor allen anderen diesen beiden zu verdanken, Adorno und Horkheimer.


 


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