Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.1998, Nr. 147 / Seite 48 back to Herbert Marcuse homepage at marcuse.org/herbert Frankfurter Schule und StudentenbewegungDer lange Marsch durch die Appositionen, von Kraushaar, Wolfgang Rezension von Dietrich Schwanitz Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): "Frankfurter Schule und Studentenbewegung". Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 - 1995. 3 Bände. Rogner & Bernhard, Frankfurt am Main 1998. Zusammen 1816 S., Abb., geb., 75,- DM. Am 30. Oktober 1967 fand ein Rundfunkgespräch zwischen Adorno und Peter Szondi statt, in dessen Verlauf Adorno sagte: "Ich glaube, daß keine Möglichkeit besteht, die Gesellschaft von der Universität her zu verändern . . ." Drei Monate zuvor hatte Marcuse auf dem Kongreß über "Dialectics of Liberation" in London ausgeführt, das Bildungssystem als soziale Agentur der Sozialisation sei durch die perfektionierte Manipulation des Bewußtseins im Spätkapitalismus automatisch politisiert worden. Deshalb müsse es sich nur selbst organisieren, um "eine Gegenpolitik zur herrschenden Politik" zu entfalten. So gegensätzliche Auffassungen von zwei Vertretern der Frankfurter Schule findet man unmittelbar nebeneinander gestellt, wenn man in der Chronik einer dreibändigen Edition blättert, in der das spannungsreiche Verhältnis von Studentenbewegung und Frankfurter Schule dokumentiert wird. Ursprünglich als Aufsatzsammlung zum zwanzigjährigen "68er-Jubiläum" von 1988 geplant, hat sich das Projekt verspätet. Dann wurde es vom Hamburger Institut für Sozialforschung übernommen und um einen Chronik-Band sowie einen Band mit Dokumenten erweitert. Hier findet man den bisher weitgehend unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Adorno, Marcuse und Horkheimer mit ihren Kommentaren über den Studentenprotest. Naturgemäß massiert sich die Dokumentation um den tragikomischen Konflikt zwischen den Rebellen und dem Institut für Sozialforschung, der in den Demonstrationen gegen Adorno, der Besetzung des Instituts, der von Adorno veranlaßten polizeilichen Räumung und schließlich in Adornos tödlichem Herzanfall im August 1969 gipfelte. Aber die Spannweite der Dokumentation reicht von 1946 bis 1995, und das ist ein Gewinn. Die Geschichte beginnt bei der Teilung der Frankfurter Schule während des amerikanischen Exils in die Gruppe Horkheimer mit Adorno, Löwenthal und Pollock einerseits und die Gruppe Neumann mit Kirchheimer, Marcuse und Grossmann andererseits. Man erfährt etwas über die Umstände bei der Rückkehr nach Deutschland und der Wiederbegründung des Instituts durch Horkheimer und Adorno und über die Frankfurter Beteiligung an der allmählichen Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit mit der dazugehörigen Protestkultur. Dabei werden drei miteinander verflochtene Entwicklungslinien verfolgt: die Geschichte des SDS, die Geschichte der Frankfurter Schule und die öffentlichen Dramen des Protests. Fotos und Reproduktionen von Plakaten und Titeln machen die Publikation zu einem mnemotechnisch ansprechenden Erinnerungssystem. Demgegenüber sind die Aufsätze des dritten Bandes bilanzierende Rückblicke. Sie behandeln die Positionen der Studentenführer (Dutschke, Krahl), arbeiten den Einfluß der einzelnen Vertreter der Frankfurter Schule heraus oder beschäftigen sich mit Sonderaspekten wie den Weiberräten, der sexuellen Revolution oder der Haltung zu Israel. Sie stammen mit zwei Ausnahmen (Oskar Negt, Ulrich Sonnemann) von Beteiligten, die zwischen 1938 (Rabehl) und 1948 (Kraushaar) geboren wurden. Und hier liegt ein Fehler des Konzepts. Wegen der biographischen Involviertheit beziehungsweise der Zugehörigkeit zur Achtundsechziger-Generation gewinnt kaum einer der Autoren Distanz zum damaligen Geschehen. Das zeigt schon ihr Stil. Die Rhetorik der Revolte war bekanntlich durch den Seminarmarxismus des SDS und die Prosa Adornos geprägt, die mit ihrem Anspruch auf Enträtselung des universalen Mystifikationszusammenhangs der allgemeinen Verblendung zugleich die Dauerbeschwörung des Verhängnisses verband, das Adorno der Gesellschaft unterstellte. Mit seiner labyrinthischen Syntax gewann seine Sprache dadurch etwas Rätselhaft-Priesterliches, etwas Kultisches und Narkotisches. Der Automatismus, mit dem solche Diskurse das Publikum in Eingeweihte und Außenseiter teilen, löste in den Außenseitern eine Imitationsepidemie aus, weil sich alle in den Besitz des Zauberschlüssels zur Demystifikation setzen wollten. Adorno illustrierte damit wieder einmal die Paradoxie, daß sich gerade schwer verständliche Jargons wie der Heideggers oder Derridas oder eben sein eigener zur Schulenbildung ganz besonders gut eignen. Gemütlich in die Katastrophe Solche distanzierenden Beobachtungen sucht man aber in den Aufsätzen vergeblich. Keiner der Verfasser hat einen Sinn für die Komik der damaligen Selbstpathetisierung und die Widersprüche zwischen Katastrophenrhetorik und vergleichsweise gemütlicher Realität. Statt dessen bleiben sie mit ihrer Sprache, ihrem Stil und ihrer Perspektive völlig der Erlebniswelt verhaftet, die sie beschreiben. Damit mutieren die Artikel von Analysen zu Dokumenten und doubeln die Dokumentation. Das gilt auch für den analytischen Zugriff. Es wird deutlich, daß im SDS ein Kampf "Organisation versus Bewegung" geführt wurde, der schließlich durch die Koalition zwischen Dutschke und Krahl zugunsten der Bewegung (und gegen die Interessen der DDR und der Stasi) entschieden wurde. Auch zeigen die Aufsätze, wie sehr sich Adorno und Marcuse als Antipoden gegenüberstanden. Adorno sah keinen Ansatz für direkte Aktionen, weil für ihn unter dem Bann des universalen Verhängnisses jede Unmittelbarkeit schon vermittelt war; deshalb verweigerte er sich dem Ansinnen, die Rebellen direkt zu unterstützen. Für Marcuse dagegen verschleierte die spätkapitalistische Bewußtseinsverkürzung die Tatsache, daß die Akkumulation des gesellschaftlichen Reichtums durchaus die Befreiung zum allgemeinen Glück ermöglichte. Entsprechend übertrug er die Rolle des revolutionären Subjekts auf diejenigen, die noch nicht in den allgemeinen Verwertungszusammenhang integriert waren: die Studenten. Aber nirgends wird dargestellt, was heute ins Auge springt: daß die Konzentration beider Theoretiker auf die universale Integrationskraft des Spätkapitalismus den allgegenwärtigen Faschismusvergleich einer funktionalistischen Optik unterwarf. Es galt die Devise: Was der Faschismus mit Gewalt und Terror schafft - nämlich die Integration der Klassen -, das erreicht der Spätkapitalismus durch die Kulturindustrie und die universale Bewußtseinsmanipulation. So eine Sicht bagatellisiert die Unterschiede zwischen beiden Systemen. Sie verblassen zur Differenz zwischen Orwells "1984" und Huxleys "Schöner neuer Welt". Nach Adorno ließ sich alles als Faschismus identifizieren; nach Marcuse konnte man sofort aus ihm ausbrechen. Mit Adorno imitierte man Benjamins Angelus Novus und blickte zurück auf die Massaker und das Morden, das einen nicht losließ; mit Marcuse blickte man tatendurstig in die Zukunft, beseelt von der Verheißung des Reichtums. Die beiden ergänzten einander: Der Rückkehrer Adorno verkörperte die deutsche Melancholie; der in San Diego lehrende Marcuse repräsentierte den amerikanischen Optimismus, mit dem sich auch die deutschen Rebellen von ihren Eltern absetzen wollten. In dieser Doppelung reproduzierten die beiden auch den Rollenwechsel Amerikas in der deutschen Nachkriegspsyche: vom Lieferanten von Identitätsangeboten zum Doppelgänger der faschistischen Eltern. So übernahm man alle Protestformen von den amerikanischen Pionieren des zivilen Ungehorsams, um gegen den faschistischen Satan Amerika zu demonstrieren. Dabei vermochte vor allem die Prosa Adornos so zu benebeln, daß der Unterschied zwischen faschistischem Terror und kapitalistischer Bewußtseinsverkürzung ebenso verschwamm wie der zwischen bürgerlicher Demokratie und totalitärer Herrschaft. Damit öffnete sich das Tor zur politischen Schauerromantik, in der man die eigenen Happenings als antifaschistischen Widerstand stilisieren konnte. Das verlieh der Revolte etwas Theatralisches. In Wirklichkeit hatte Adornos Diktion die Wirkung der ästhetischen Verzauberung: Die Entlarvung des "Latenten" und "Verborgenen", des "Verdrängten" und "Unterdrückten", die auch die mit dem Marxismus in der Kritischen Theorie verschmolzene Psychoanalyse kennzeichnete, bewirkte eine Ästhetisierung des Diskurses. Mit dieser Optik wurde alles verrätselt. Das Lieblingswort der Zeit hieß "verschleiert". Alles erhielt eine doppelte Bedeutung, eine latente und eine manifeste, eine offenbare und eine verborgene. Das war der Grund dafür, daß die Kritische Theorie Soziologen und Germanisten gleichermaßen anzog. Die Gesellschaft wurde zu einem Kriminalroman für diejenigen mit detektivischem Blick - jeder Sherlock Holmes fand seinen Dr. Watson, den er aufklären konnte. Und weil man in einem Kunstwerk steckte, war jedes Detail, das nicht stimmte, ein Indiz dafür, daß das Ganze schon das Falsche war. Demgegenüber hatte Marcuse den Weg ins Reich der Freiheit an der Stelle entdeckt, an der die Integrationskraft des Spätkapitalismus am dringlichsten zur Debatte stand: im Erziehungssystem. Deshalb erklärte er die Studenten zu Katalysatoren revolutionärer Prozesse. Vom heutigen Stand der Theorieentwicklung aus gesehen, repräsentiert diese Problemfassung den Widerspruch zwischen der neuen Erfahrung mit der Integration der Gesellschaft durch funktionale Differenzierung und einer veralteten Selbstbeschreibung, die das Zurücktreten des Klassenantagonismus nur als Faschismus deuten konnte. Die Bildung der Großen Koalition und die Verabschiedung der Notstandsgesetze verliehen dieser Sichtweise zusätzliche Beglaubigung. Auf seiten der Studenten aber erhöhte sich mit dem, was man heute Individualisierung nennt, die Erfahrung von Kontingenz: Alles schien auch anders möglich, nichts schien mehr notwendig. Zugleich ließ sich dieses "andere" aber nicht mehr als Alternative zum Bestehenden realisieren, weil die moderne Gesellschaft selbst schon auf dem Prinzip des Durchspielens von funktional äquivalenten Alternativen beruht: Die Wirkung auf den Protest nannte Marcuse dann "repressive Toleranz" - eine Paradoxie, die anzeigt, daß wir uns in der Nähe von Double binds, Schizophrenie und Paranoia befinden. Wo der Protest willkommen ist, wird gerade die Freundlichkeit verdächtig. Hier lag einer der Gründe für den paradoxen Haß auf die "Scheißliberalen", und deshalb richtete sich die Wut so oft gegen die eigenen Verbündeten. Umgekehrt empfand man durchaus Sympathie für die offenen Gegner: Sie bestätigten die eigene Position. Und wenn es keine Gegner gab, mußte man sie selbst schaffen. Das erübrigte sich mit dem Beginn des Terrorismus. Aus dem "latenten" wurde der "manifeste" Faschismus. Das alles kann man heute sehen - damals allerdings auch. Aber solche vergleichsweise "coolen" Analysen sucht man vergeblich in einer Sammlung von Aufsätzen, die vom Boden der Prämissen aus argumentieren, die sie thematisieren sollten. Wenn man sie liest, kann man schon mal vergessen, daß der Realsozialismus inzwischen zusammengebrochen ist. Von damaligen Fehlurteilen, zeitspezifischen Borniertheiten oder Schwächen der Theorie ist kaum die Rede. Daß man Beschreibungen der Wirklichkeit nur beobachten kann, wenn man ihre Begrenztheit mitbeobachtet, gehört auch nicht zu den Einsichten, die die Aufsätze prägen. Und so fallen sie denn hinter den Stand der gegenwärtig verfügbaren Beschreibungsmöglichkeiten zurück. Damit illustrieren sie, daß die westdeutsche Linke bis heute Mühe hat, die damals entworfenen Problembezüge von außen zu beobachten. Sie sieht sich nicht kritisch, sondern nostalgisch. Dazu paßt die Edition recht gut. Sie ist vor allem ein Monument - ein System der Erinnerungen, in dem man wie im Museum von Topos zu Topos wandert - und das Familienalbum einer Generation. Dazu paßt es auch, daß die drei Bände genau dreißig Jahre nach 1968 erschienen sind. Die dadurch geprägte Zeit ist vorbei. Das gilt auch für den Stern des Neomarxismus, der leuchtend über Frankfurt aufgegangen und dann verglüht ist. Nun nimmt der Großvater den Enkel auf den Schoß, öffnet den Chronik-Band und zeigt auf ein Bild: "Schau", sagt er, "der da, direkt zwischen Dutschke und Marcuse, das bin ich. Und das Mädchen dahinter, das mit der Fahne, das ist Großmutter." DIETRICH SCHWANITZ |