Introduction
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- Rüdiger Zill in der
Frankfurter Rundschau /Feuilleton, am 19.07.2003:
"... Juli 2003, ein heißer Sommertag im Audimax der Freien
Universität Berlin. Marcuse ist zurückgekehrt. Überlebensgroß
sieht sein Bild von der Leinwand über der Bühne herab und
beschirmt die Redner eines Gedenkkolloquiums "Zur Aktualität
der Philosophie Herbert Marcuses". Zwei Tage vor seinem 105. Geburtstag
erinnert man sich an seinen Einfluss auf die 68er und fragt nach der
Zukunft seiner Theorie. Die Zahl der Zuhörer ist mit etwa 250 Teilnehmern
deutlich überschaubarer. Die Zeiten haben sich geändert.
...
Das Gedenkkolloquium sollte allerdings kein nostalgisches Ehemaligentreffen
werden, sondern die Frage nach Marcuses Aktualität Ernst nehmen.
Keine leichte Aufgabe bei einem Autor, der immer auch aus der politischen
Situation heraus schrieb. Bei solchen Texten ist die theoretische Halbwertszeit
häufig kurz. Aber Marcuse versuchte das Kunststück, Gegenwartsdiagnosen
in allgemein philosophische Überlegungen zu fundieren. So beantworteten
einige Teilnehmer des Kolloquiums die Frage nach seiner Aktualität,
indem sie den theoretischen Kontext seines Denkens ausloteten: Axel
Honneth, Direktor des Instituts für Sozialforschung, unterstrich,
warum bei allen Unterschieden im Detail, Marcuse mit Horkheimer und
Adorno in seinen Grundvoraussetzungen so stark übereinstimmte,
dass mit Recht von einer Schule gesprochen werden könne. Der Kritischen
Theorie insgesamt sei es nicht um eine abstrakte Theorie der Ungerechtigkeit
gegangen, sondern um eine Pathologie des Sozialen. Ihr normativer Hintergrund
bestand in der Vorstellung eines vernünftigen Allgemeinen, das
allerdings unter kapitalistischen Verhältnissen nicht zur Verwirklichung
kommen könne. Dabei sei Marcuse ohne Zweifel derjenige gewesen,
der am meisten Zutrauen in die politische Durchsetzbarkeit dieses Allgemeinen
hatte.
Daher rührte auch sein politisches Engagement, dessen Kontexte
eine andere Gruppe der Teilnehmer diskutierte. Hartmut Häußermann
und Wolfgang Lefèvre, in den sechziger Jahren
Asta-Vorsitzende der FU, untersuchten die Bedeutung Marcuses für
die deutschen Studenten im Jahr 1967. Er sei nicht der Guru einer Gefolgschaft
gewesen, sondern der Stichwortgeber für Diskussionen, in denen
um das Verständnis der eigenen politischen Rolle gerungen wurde.
An Marcuses Rolle für die amerikanischen Studenten erinnerte seine
wahrscheinlich bekannteste Studentin, die Bürgerrechtlerin Angela
Davis. Sie beschwor Marcuses Charisma, die Faszination, die
von seiner Person ausging, die Kraft, mit dem er jeden Defätismus
bekämpfte. Die Frage nach Marcuses Aktualität versuchte Davis
zu konkretisieren, indem sie sie in einzelne Fragen umformulierte: Was
hätte Marcuse zu den Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologien
gesagt, was zu den Folgen des 11. September, zu Bushs Cowboy-Diplomatie,
aber gleichzeitig auch zu der außerordentlichen Mobilisierung
der Anti-Kriegsbewegung? Die Antworten ließ sie offen...
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