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Neues Deutschland, 22 December 2003 (link to original at ND website)
Herbert Marcuse? Kenne ich nicht.
35 Jahre nach 1968 streiken die Studierenden primär für das
eigene Leben. Was sollten sie auch sonst tun?
Von Velten Schäfer
Im Raum der AG Inhalt an der »Offenen Universität«
steckt ein wandfüllendes Organigramm aus kleinen weißen Zettelchen
das Feld ab, innerhalb dessen sich die Streikenden zu bewegen haben. »Kreuzwahlen«,
»Viertelparität«, »Bertelsmann«, »Dienstleistungsmodell«,
»Konstruktive Kritik« und »Gesellschaftliche neoliberale
Strömung« ... Es gibt zu viele Akteure und Fronten in diesem
Spiel. Viel mehr als 1968. |
Berlin-Mitte, 15.Dezember. »Jetzt muss ich erstmal diesen Raum hier leerkriegen.«
Die energische Studentin vom Info-Pool des besetzten Seminargebäudes gleich
hinter dem Hauptcampus der Berliner Humboldt-Universität klingt genervt.
Sie hatte sich schon über das rege Interesse gefreut – aber die 25-köpfige
Truppe, die gerade ihren Streikposten passiert hat, ist nicht gekommen, um sich
an Diskussionen über »die Wirtschaft der Zukunft« oder an der
»AG Kritik der herrschenden Verhältnisse« zu beteiligen. Sie
ist auf Profaneres aus: Anwesenheitsbestätigungen und Leistungsnachweise.
Eigentlich hatten die Studierenden das bisher blockierte Gebäude als »Offene
Universität« geöffnet. Nach den mittlerweile seit Wochen andauernden
Streik wollen sie hier »um, über, unter und neben dem Streik Inhalte
erarbeiten«, wie ein anderer Streik-Portier erläutert. Nur mit einem
solchen Rückgrat, meint er, werde sich der Protest nach den Feiertagen
verstetigen lassen. Doch kaum – so scheint es zunächst – ist
die Tür nicht mehr verrammelt, tauchen die ersten regulären Seminare
auf. Aber auch nach Wochen des Ausstandes hält die Solidarität. Nach
dem Besuch einer Streikposten-Gruppe gibt der Leiter des abtrünnigen Pädagogikseminars
auf, und mehr als die Hälfte seiner Hörer schließt sich stattdessen
der ersten Vollversammlung der »Offenen Uni« an.
Die beginnt mit der Auswertung eines Namenswettbewerbs. »Herbert Marcuse-Universität...«
liest die Plenums-Moderatorin vor. Dann schaut sie fragend in die Runde »Den
kenn' ich gar nicht«. Rosa Luxemburg und Karl Marx sind zwar bekannt,
finden aber keine Mehrheit. Wie aber wär’s mit »Uni für
alle«? Doch auch das geht nicht, denn in der Abkürzung ergäbe
dies »UfA«, und der Filmkonzern habe seine Nazi-Vergangenheit nicht
aufgearbeitet. Die 40 Universitätsgründer beschließen am Ende,
die Namenssuche fortzusetzen – und steigen in eine »Konzept-Debatte«
ein, die sich im Wesentlichen um die Frage dreht, ob eine »Konzept-Gruppe«
notwendig und legitim sei oder per se der proklamierten »Offenheit«
widerspreche.
Es mag leicht sein, sich über solche basisdemokratische Torturen lustig
zu machen, und so mancher wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen
angesichts einer Studenten-Sprecherin, die nicht einmal mehr den Namen des Stichwortgebers
von »68« kennt. Und so kommt, wie schon beim beim letzten Studentenstreik
im Wintersemester 1997/ 1998, die grundsätzliche Kritik von eigentlich
unerwarteter Seite. Während die Mitte bereits erleichtert festgestellt
hat, dass es »nicht um die Weltrevolution« gehe, sind von links
außen schon seit Wochen Abgrenzungssignale zu vernehmen. »Leerer
Aktionismus« ist dabei noch der freundlichste Vorwurf: Der Streik sei
unpolitisch, die Studierenden wollten mit ihren Demonstrationen nur unter Beweis
stellen, wie nützlich sie für Deutschland sind. Es handele sich um
Demonstrationen Privilegierter für das individuelle Fortkommen. Andere
monieren, dass sich die Studenten nicht um Rechtsextremismus und Antisemitismus
oder den Irak kümmerten, obwohl das doch viel wichtiger sei. Das Szene-Organ
»Jungle World« hat bereits zum Boykott der Studentendemos aufgerufen.
Der hinter solchen Kritiken stehende Vorwurf ist so zutreffend wie absurd: Rückfall
hinter »68«.
Diesen Vergleich sind die Studierenden noch immer nicht losgeworden, obwohl
sich die Bedingungen seither fundamental geändert haben. 1968 reichte es,
in gemischten Gruppen zusammenzuleben, sich die Haare wachsen zu lassen oder
sich mit einem Transparent auf die Straße zu stellen, um nachhaltig Aufsehen
zu erregen. Aber trotz alles subjektiven Hasses, den die »68er«
auf sich zogen, waren die gesellschaftlichen Umstände eigentlich mit ihnen.
Die BRD-Gesellschaft drohte in ihrer postfaschistischen Erstarrung zu ersticken,
und es hat viele gegeben, die nur darauf warteten, dass endlich einmal die Fenster
aufgingen. Auch gegen die Teildemokratisierung der Hochschulen und die »Massenuniversität«
gab es zwar Widerstände – doch brauchte der boomende bürokratische
Industriestaat Bundesrepublik tatsächlich eine steigende Zahl von Akademikern.
Zudem mussten Hochschulen wie Gesellschaft vor dem Hintergrund des zu dieser
Zeit Fahrt aufnehmenden europäischen Einigungsprozesses zumindest den gröbsten
braunen Ballast über Bord gehen lassen, um international anschlussfähig
zu werden. Schließlich kam mit dem Vietnam-Krieg eine weltpolitische Situation
dazu, in der eine emphatische Identifikation mit den Schwachen leicht fiel.
Saddam Hussein dagegen ist nicht das Napalm-Mädchen von My Lai. Doch nicht
nur in diesem Punkt haben es die heutigen Studierenden ungleich schwerer als
diejenigen, die vor 35 Jahren den Mythos Studentenbewegung erschaffen haben.
Die abgebrühten Medien zum Beispiel wollen ständig mit neuen Bildern
gefüttert werden – »Aktionismus« wird da zur Tagespflicht.
Und die Internationalisierung, die noch 1968 den Studierenden so sehr entgegenkam,
ist längst zu neoliberalen Regimes geronnen, die eine internationale Politik
des Ausschlusses der Verlierer forcieren. Das »Maastricht-Kriterium«,
das institutionalisierte Freihandelsabkommen GATS oder die Internationalen Finanzinstitutionen
fordern auch von ihren reichen Mitgliedern konsequent die Politik der öffentlichen
Armut. Konnte man den alles organisierenden Staat der 60er und 70er Jahre durch
die Drohung mit »Ausstieg« noch schocken, kann er heute etwaige
Aussteiger getrost ziehen lassen, fallen sie doch als Alimentenempfänger
forthin aus. Die »68er« streikten mit revolutionären Motiven
und machten später zumeist Karriere. Die heutigen Studierenden fürchten
einstweilen um ihre materielle Zukunft – vielleicht werden sie später
noch Revolutionäre.
Die Proteste gegen »Bildungs- und Sozialabbau«, seien sie rhetorisch
noch so harmlos und argumentativ noch so »immanent«, sind insofern
nicht minder radikal als die Demonstrationen von 1968 – selbst wenn Marcuse
den meisten nicht bekannt ist. Er hat beschrieben, wie der moderne Mensch unter
dem Druck der Warengesellschaft immer eindimensionaler wird. Vermutlich kennen
die Studenten ihn heute nicht mehr, weil er völlig Recht behalten hat,
und ihnen in ihrem fragmentierten Leben Zeit und Ruhe für solche Lektüren
fehlen. Sie sollten sich Marcuse unter den Weihnachtsbaum legen lassen. Ein
Thema für die »Offene Uni« wäre er allemal.