Junge Welt, 11.04.1998
(see also this April 2003 review of Dutschke's
Tagebücher, below)
http://www.jungewelt.de/suche/
�Sind Sie Rudi Dutschke?�
Vor 30 Jahren: Ein Attentat und die antiautoritäre Revolte
�Nachdem ich die Kugeln schon in Kopf und Körper hatte,
war ich es wert, als Mensch zu gelten, vorher hatten die Herren da
oben alles getan, um Unmenschlichkeit wachsen zu lassen. Wir haben
keinen Grund, die Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. 7. 67 und den
11. 4. 68 zu vergessen. Da war nicht >klammheimliche Freude<,
da war offene Freude der Herrschenden.�
(Rudi Dutschke 1978)
Als Rudi Dutschke am 11. April 1968 mit seinem Fahrrad vor
der noch geschlossenen Apotheke in der Nähe des Westberliner SDS-Zentrums
wartete, um Medizin für seinen dreimonatigen Sohn zu besorgen,
war er bereits auf dem Sprung, die Bundesrepublik für unbestimmte
Zeit zu verlassen, seine führende Rolle innerhalb des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS) und der Außerparlamentarischen
Opposition (APO) demonstrativ aufzugeben.
Zu sehr war er ins Fadenkreuz nicht nur der bürgerlichen Hetzkampagne,
sondern auch seiner eigenen Genossen geraten, die ihm zunehmenden Personenkult
und unverantwortliche politische Zuspitzungen vorwarfen. �Ich meine,
durch diese totale Personalisierung ist ein autoritäres Moment
in unsere Bewegung hineingekommen, das wir eigentlich nur durch ein
systematisches Konzept von Kritik und Selbstkritik überwinden können.
Wenn jetzt hier von den Herrschenden gesagt wird, ohne Dutschke ist
die Bewegung tot, so habt ihr zu beweisen, daß die Bewegung nicht
steht mit Personen, sondern daß sie getragen wird von Menschen,
die sich im Prozeß der Auseinandersetzung zu neuen Menschen herausbilden.
Zu neuen Menschen mit neuen Bedürfnissen, mit neuen Interessen,
die sich nicht von oben, links oder rechts manipulieren lassen, sondern
fähig sind, an der Basis die Widersprüche zu vertiefen, in
den einzelnen Sphären sich zu organisieren mit einer klaren antiautoritären,
antifaschistischen Tendenz, die in einem langfristigen Prozeß
diese Gesellschaft revolutioniert�, begründete Dutschke in einem
kurz vor dem Attentat aufgezeichneten Fernsehinterview seinen geplanten
Umzug in die USA. Von dort aus wollte er mit Hilfe des von ihm und einigen
Genossen unmittelbar nach dem Vietnam-Kongreß gegründeten
Internationalen Nachrichten- und Forschungsinstituts (INFI) Informationen
über die Dritte Welt sammeln und die internationalen Aufstandsbewegungen
und Revolten mit den Kämpfen in den Metropolen und den deutschen
Gruppen verbinden.
Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen. Nachdem er einige Minuten
auf seinem Fahrrad am Straßenrand gewartet hatte, sah er, ohne
sich dabei etwas zu denken, einen jungen Mann über die Straße
an ihm vorbeigehen und in einem Abstand von ca. zwei Metern stehenbleiben.
�>Sind Sie Rudi Dutschke?< Ich zögerte nicht und sagte: >Ja<
- und in einem sekundenhaften, blitzartigen Augenblick riß er
seine Pistole aus der Jackentasche und schießt. Da war keine andere
Frage, kein Nachdenken, kein Zögern bei diesem Lohn- Sklaven, diesem
Maler Bachmann, politischer Mord allein war sein bestimmendes Ziel,
ein faschistisches�, beschrieb Dutschke die Szene viele Jahre später.
Sein Leben kann zwar gerettet werden, doch er verliert zehn Zentimeter
seines Gehirns und damit sein Erinnerungs- und Sprachvermögen.
Der Attentäter Josef Erwin Bachmann, ein durch Springer- Presse
und neofaschistische Publikationen aufgehetzter 23jähriger Gelegenheitsarbeiter,
wird kurz nach der Tat festgenommen und 1969 zu sieben Jahren Zuchthaus
verurteilt. Nachdem er Dutschke seine Reue bekundet hatte, brachte er
sich im Februar 1970 selbst um.
Warenfetisch und Moral
�Das politische Neuerlernen begann im Krankenhaus, die Presse spielte
hierbei wieder eine wichtige Rolle�, schreibt Dutschke in seiner Fragment
gebliebenen Autobiographie �Aufrecht gehen� und schildert, wie ihn ein
Journalist im Mai 68 im Krankenzimmer aufsucht und um ein Foto des Angeschossenen
bittet. Dutschke weist ihm empört die Tür. Auch als ihn einige
Tage später ein führender SDS-Genosse nochmals darum bittet
und meint, für ihn und die Bewegung seien 100 000 DM im Spiel,
bleibt er hart: �Mich zu erniedrigen war ich nicht bereit: als Sozialist
aus moralischen Gründen, und der angeschossene >Marxist<
wußte noch immer etwas von der Kategorie der Ware und vom Warenfetischismus.�
Das Bild des ein halbes Jahr zuvor ermordeten und öffentlich ausgestellten
Che Guevara dürfte ihm noch präsent gewesen sein, denn er
fährt fort: �Die Geier des Pressemarktes ... wollten das Bild eines
Geschlagenen, eines Ausgeschalteten, das Bild eines SDS-Wracks sehen.
Der Jugend sollte in letzter Konsequenz gezeigt werden: Geht bloß
nicht solch einen Weg, es wird euch wie ihm ergehen. Die breite und
verzweifelte Mobilisierung konnte die abschreckende Wirkung des Attentats
doch nicht leugnen. Mit solchen Bildern aus dem Krankenhaus sollte diese
Aussichtslosigkeit befestigt werden, nein, nein, nein.�
Eine symptomatische Episode, die ein Schlaglicht auf die Persönlichkeit
Dutschkes wirft und seine Ausstrahlung auf die vielen anderen erklärt,
die ihn zum Symbol der Revolte machten. Seine antiautoritäre und
aufklärerische Persönlichkeit verstand es, Menschen nicht
nur schwierige politische Sachverhalte verständlich zu machen,
sondern sie auch zur politischen Aktion zu bewegen. �Sich selbst zu
verändern, glaubwürdig zu werden, Menschen zu überzeugen
und den verschiedensten Formen von Ausbeutung und Terror entgegenzuwirken,
das mag in manchen Augenblicken ungeheuer schwer erscheinen. Und dennoch
gibt es dazu keine Alternative�, sollte er 1977 sein Credo auf den Punkt
bringen. Er hat nie vergessen oder verdrängt, daß auch die
Erzieher erzogen werden müssen und daß dieses nur durch ein
Zusammenfallen von Selbstveränderung und Ändern der gesellschaftlichen
Umstände, durch revolutionäre Praxis vonstatten gehen kann.
Entsprechend verstand er den Sozialismus �nicht als Mythos der Ferne
oder der Vergangenheit�, wie er einmal schrieb, �sondern als konkret-
utopische Perspektive der neuen Lebensqualität�, als �aufrechten
Gang in Richtung Freiheit�.
Ein deutscher Sozialist
Am 7. März 1940 in der ostdeutschen Mark Brandenburg geboren, wächst
Rudi Dutschke in einfachen Verhältnissen auf und engagiert sich
in der evangelischen Jugendgemeinde. Weil er den Dienst in der Nationalen
Volksarmee der DDR verweigert, wird dem begeisterten Sportler das ersehnte
Studium an der Sporthochschule verboten. Dutschke treibt es nach West-Berlin,
wo er das Abitur nachholt und 1961 ein Soziologiestudium an der Freien
Universität beginnt. Der christliche Sozialist steht noch ganz
unter dem Einfluß der existentialistischen Philosophie, von Sartre,
Heidegger und dem Buddhismus. �Rudi war einig mit der existentialistischen
Kritik an der Massenkultur, insoweit sie die Menschen von sich selbst
entfremdet. Er stimmte nicht überein, insoweit es darum ging, sich
von der Gesellschaft abzusondern. Man mußte in Kommunikation mit
den Menschen bleiben. Man mußte das Bewußtsein (und damit
die Massenkultur) der Menschen verstehen und sie, davon ausgehend, verändern�,
schreibt seine Witwe Gretchen Dutschke über jene Zeit. Er beginnt
ein intensives Literaturstudium - Freud, Max Weber, Marx, Luxemburg,
Lenin, Trotzki, Karl Korsch, Ernst Bloch, Isaac Deutscher u. v. a. -
und entdeckt vor allem Georg Lukacs und Herbert Marcuse. Unter ihrem
Einfluß entwickelt sich Dutschke zum revolutionären Marxisten,
der sozialdemokratischen Reformismus und erziehungsdiktatorischen Stalinismus
gleichermaßen ablehnt.
Zusammen mit seinem ebenfalls aus dem Osten gekommenen Freund Bernd
Rabehl engagiert er sich seit 1963 in der kulturrevolutionär-anarchistischen
Gruppe Subversive Aktion und seit 1965 im SDS. Beide werden schnell
zu Führungsfiguren der entstehenden APO, der außerparlamentarischen
Opposition, und propagieren eine stärkere Ausrichtung an provokativen
Formen �direkter Aktion�, um die Verhältnisse der versteinerten
CDU-Gesellschaft zum Tanzen zu bringen und politisches Bewußtsein
bei den Massen hervorzurufen.
�Die materiellen Voraussetzungen für die Machbarkeit unserer Geschichte
sind gegeben. Die Entwicklungen der Produktivkräfte haben einen
Prozeßpunkt erreicht, wo die Abschaffung von Hunger, Krieg und
Herrschaft materiell möglich geworden ist. Alles hängt vom
bewußten Willen der Menschen ab, ihre schon immer von ihnen gemachte
Geschichte endlich bewußt zu machen, sie zu kontrollieren, sie
sich zu unterwerfen, hält Dutschke Mitte Juni 1967 dem die studentischen
Aktionen kritisierenden Jürgen Habermas auf einem Kongreß
über Bedingungen und Organisation des Widerstandes entgegen. Eine
Woche vorher, am 2. Juni, war der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration
gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien von einem Polizisten erschossen
worden. Erster Höhepunkt der außerparlamentarischen Opposition,
der zu einer Radikalisierung der Aktivisten und zur Verbreiterung ihres
Protestes beitragen sollte.
Radikalisierung der Revolte
Die bundesdeutsche Gesellschaft zu Beginn der sechziger Jahre schien
stabil und versteinert, doch unter der Oberfläche veränderten
sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Der wirtschaftliche Nachkriegsboom
trieb seinem Ende zu, und die obrigkeitsstaatliche Adenauer-Gesellschaft
reagierte mit einer Mischung aus Beharrungsvermögen und Reformwillen.
Mit Notstandsgesetzen, einem staatsinterventionistischen Wirtschaftsprogramm
und Einführung des Mehrheitswahlrechtes wollten sich die Herrschenden
auf alle Eventualitäten vorbereiten. Das rief jedoch das liberale
Bürgertum auf den Plan, ebenso die Gewerkschaften und Teile der
SPD. Vor allem die Studierenden radikalisierten sich schnell im Kampf
gegen die zutiefst autoritär strukturierte Ordinarienuniversität.
Sie waren auch die ersten, die die neokoloniale und imperialistische
Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt thematisierten und anprangerten.
Mit der zunehmenden Militärintervention der USA in Vietnam
bekommen die vielfältigen Protestbewegungen ein übergreifendes
Thema. Im Dezember 1964 kommt es zu einer großen Demonstration
gegen den kongolesischen Diktator Tschombé, und im Mai 65 findet
ein Bonner Kongreß gegen die Notstandsverordnungen statt. In den
folgenden Monaten demonstrieren Zehntausende gegen den Krieg in Vietnam.
Im Jahr 66 schließlich breitet sich die Bewegung weiter aus. Am
2. Juni 67 kommt es dann zu Demonstrationen gegen den Schah von Persien
und zum ersten Toten der sich schnell vereinheitlichenden Protestbewegung.
Der Kampf gegen die �formierte Demokratie� verbindet sich mit der Solidarität
mit antiimperialistischen Befreiungsbewegungen weltweit. Seit Ende 67
schießen sich bürgerliche und neofaschistische Presse auf
den vermeintlichen Rädelsführer Dutschke ein, der die ersten
tätlichen Übergriffe auf seine Person abwehren muß.
Mitte Februar kommt es zum Internationalen Vietnam- Kongreß in
Berlin. 5 000 Menschen aus aller Welt diskutieren unter der Wandparole
�Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen�,
jagen dem herrschenden Bürgertum heillose Angst ein und lösen
Gegenkundgebungen (�Für ein Verbot des SDS�, �Dutschke Volksfeind
Nr. 1� usw.) aus.
Am 4. April wird der schwarze Bürgerrechtsführer Martin
Luther King bei einem Attentat in den USA ermordet. Der junge Deutsche
Bachmann weiß nun endlich, was er zu tun hat und plant sein Attentat
auf den schillernden Protagonisten der deutschen Revolte, das er eine
Woche später, am Gründonnerstag, in die Tat umsetzen wird.
Die Bewegung ist schockiert und reagiert mit Gegengewalt. Das Osterfest
erlebt eine Welle des teilweise gewalttätigen Protestes, der sich
vor allem gegen die rechtsbürgerliche Meinungsführerschaft
des Springer-Verlages richtet (�Enteignet Springer!�) und zwei Tote
in München fordert.
Die antiautoritäre Revolte, von Beginn an eine Koalition verschiedener,
widersprüchlicher Kräfte, bekommt eine homogenisierende Dynamik,
die die minoritäre Rolle der Bewegung zeitweilig aufhebt.
Jahre des Aufschubs
Unter dem kombinierten Ansturm von Repression und partieller Reformen
zerbricht die Revolte jedoch bald in ihre heterogenen Einzelteile. Sie
kann zwar als Kulturrevolution noch eine jahrzehntewährende Dynamik
erlangen, aber keine politisch durchsetzungsfähige sozialrevolutionäre
Qualität jenseits von Reformismus und Stalinismus mehr begründen.
Der schwerverletzte Dutschke ist durch seine schweren Verletzungen während
dieses geschichtlichen Auf und Ab zum Zaungast degradiert, muß
sich seine Sprache in den nächsten Wochen und Monaten erst mühsam
wieder aneignen. Er will nur noch weg aus diesem Deutschland, doch Einreiseverbote
nach Frankreich, in die Niederlande, die USA und Kanada vereiteln seine
Pläne. So geht er mit Frau und Kind zuerst nach Italien und dann
nach Großbritannien. Als ihn die dortige konservative Regierung
Anfang 1971 wegen �subversiver Tätigkeit� ausweist, nimmt er im
dänischen Aarhus einen Lehrauftrag an der Universität an.
Hier macht seine Genesung Fortschritte, und er vollendet 1973 seine
Doktorarbeit über Lukacs, Lenin und die Dritte Internationale,
seinen Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen.
Von Dänemark aus greift er auch wieder verstärkt in die
deutschen Verhältnisse ein - durch Reisen zu Freunden und Bekannten
und durch vereinzelte Artikel, die er zunächst unter Pseudonymen
schreibt. Doch die Bundesrepublik hatte sich seit 1968 stark verändert.
Die Wirtschaftswunderzeit war vorbei, die formierte Gesellschaft zeigte
starke Risse, die CDU war abgewählt und SPD und FDP unter Willy
Brandt an der Regierung. Gesellschaftliche Reformen wurden angegangen
und mit vermehrter Repression gegen radikale Linke kombiniert.
Auch die Linke hatte sich grundlegend gewandelt. Sie hatte ihre
antiautoritäre Phase beendet. Während auf der einen Seite
die DKP, aber auch jede Menge maoistischer Pseudoparteien aufgebaut
wurden, gingen andere in den bewaffneten Untergrund. Die Neue Linke
�glaubt, ein geschichtlich ernst zu nehmendes Subjekt zu sein, - und
merkt nicht, wie schnell sie bereits wieder zum gesellschaftlichen Objekt
geworden ist�, schreibt Dutschke 1974 und sieht das Erbe von 1968 verschüttet:
�Jeder Versuch, diese Zeit zu fetischisieren, zu idealisieren, ist genauso
reaktionär wie der Versuch, sie zu negieren. Die Erbschaft besteht
vor allem in dem Bewußtsein, daß der einzelne kein Objekt
von Parteifunktionären sein darf in der Entwicklung hin zur Selbständigkeit,
in dem Verlangen nach Demokratisierung. Der Sozialismusbegriff muß
erweitert werden, er muß zurückgewonnen werden. Ehe man die
Sozialismusfrage stellt, muß man zunächst die demokratische
Tradition des Bürgertums ernst nehmen.�
Nach gescheiterten Versuchen, die antiautoritären Reste der
Linken zu sammeln und eine neue linkssozialistische Partei zu gründen,
wird er Anfang 1979 zum prominenten Gründungsmitglied der Grünen
Partei, deren Aufstieg und Niedergang er jedoch nicht mehr erleben sollte.
Heiligabend 1979 starb Rudi Dutschke im Alter von 39 Jahren in seinem
dänischen Exil an den Spätfolgen des auf ihn 1968 verübten
Attentats. Er hinterließ seine Frau Gretchen Dutschke, seine drei
Kinder Hosea Che, Polly Nicole und Rudi-Marek sowie ein politisches
Vermächtnis, an das sich nur noch wenige erinnern wollen.
Christoph Jünke
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