Frankfurter
Rundschau, 7 February 2003, Das politische Buch
Probe auf den libertären Sozialismus
Um den Begriff der Freiheit kreisen die nachgelassenen Texte von Herbert
Marcuse aus den Jahren 1956 bis 1971
Von Rudolf Walther
Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften. Hrsg. v. Peter-Erwin
Jansen. Band 3: Philosophie und Psychoanalyse. Mit einer Einleitung
von Alfred Schmidt. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2002, 233 Seiten,
24 � .
Als in den Feuilletons vor etwas über zwei Jahren Herbert Marcuses
100. Geburtstag an der Reihe war, übten sich einige Verfassen von
Totenscheinen. Man konnte den Eindruck gewinnen, ein noch "töterer"
Hund als Marcuse ließe sich gar nicht finden. Die von Peter-Erwin
Jansen herausgegebenen Nachgelassenen Schriften versetzen die forschen
Zeitgeistdiagnostiker ins Unrecht. Der dritte Band enthält zehn Texte
aus den Jahren 1956 - 1971. Die Texte sind bis auf eine Ausnahme erstmals
auf Deutsch zugänglich. Das thematische Zentrum der Beiträge
bildet Marcuses Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und das von vielen
als Hauptwerk angesehene Buch Triebstruktur und Gesellschaft (erschienen
1965 als überarbeitete Fassung von Eros und Kultur, 1957).
Den Texten vorangestellt ist eine Studie des Philosophen Alfred Schmidt,
der in den sechziger Jahren mehrere Bücher Marcuses übersetzt
hat. Ebenso präzis wie kenntnisreich rekonstruiert Schmidt das intellektuelle
Umfeld, in dem Marcuses Schriften entstanden. Max Horkheimer legte schon
1932 dar, dass "das Rangverhältnis von Ökonomik und Psychologie"
keine historische Konstante bildet, sondern Brüchen und Wechselfällen
unterworfen bleibt. Der Kreis der später "Frankfurter Schule" genannten
Autoren war der einzige Ort, an dem mit theoretisch geschärftem Blick
und ohne politische Scheuklappen nach Antworten auf die Frage gesucht
wurde, wie sich sozial-ökonomische Strukturen über die Erfahrungen
der Subjekte und Kollektive in die Köpfe und Triebstrukturen der
Einzelnen übersetzen. Erich Fromm gehörte zu den ersten Autoren,
die diesen "Stoffwechsel" zwischen "Triebwelt und Umwelt" beziehungsweise
das Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozialökonomischen
Strukturen untersuchten. Nur in diesem Kreis wurden die theoretischen
Konzepte von Marx und Freud auf ihre gegenseitige Anschlussfähigkeit
geprüft.
Marcuse hatte dabei insofern eine Sonderrolle, als er von Heidegger her
kam und sich "ein ausgeprägt anthropologisches Interesse" bewahrt
hatte, auch als er sich längst vom Freiburger Philosophen ab- und
den Problemen "der konkret-historischen Existenzverhältnisse" (Marcuse)
zugewandt hatte. Im Unterschied zu Heidegger ging es Marcuse freilich
nicht um "Dasein überhaupt", sondern um "konkretes Dasein in einer
konkreten Welt". Marcuse übersetzte die im Ungefähren orakelnde
ontologische Existentialanalyse in eine praktisch und politisch interessierte
Wissenschaft.
Das belegt schon der erste Essay über die "Ideologie des Todes",
der 1957 oder 1958 in den USA erschien. Der Text steht im Zusammenhang
mit dem Tod seiner Frau Sophie, die am 8.2.1951 an Krebs gestorben war.
In den darauf folgenden Jahren beschäftigte sich Marcuse mit dem
Tod und begründete seine Überzeugung, wonach die Ansicht, der
Tod gehöre zum Leben, falsch sei. Marcuse sprach von einem "seltsamen
Masochismus", mit dem Philosophen und Theologen den Tod als einfachen
biologischen Tatbestand "voller Schmerz, Schrecken und Verzweiflung" in
ein "existentielles Privileg" umwandelten. Er plädierte statt dessen
für eine Umbewertung des Todes zugunsten eines "Lebens ohne Angst".
Ein Leben in Freiheit bedeutet für Marcuse auch, den Tod der menschlichen
Autonomie zu unterwerfen, das Sterben als das selbst gewählte Ende
seines Lebens zu begreifen. In der bloßen Hinnahme des Todes entdeckte
er ebenso eine vom Realitätsprinzip erzwungene Bejahung der Fremdherrschaft
wie in der Beherrschung von Individuen durch den Staat, die Religion oder
die Naturgewalten. Das Leben selbst - und nicht der Tod oder ein Jenseitiges
- wird so zum Telos. Und wer ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben
gelebt hat, kann dem Tod als - so Marcuse - "technische Grenze" der Freiheit
gelassen begegnen.
Bei aller Vorsicht gegenüber Marcuses hochspekulativer Verbindung
der Kategorien aus der Freudschen Trieblehre mit geschichtsphilosophisch
aufgeladenen Teilen der Marxschen Theorie, bleibt doch richtig, dass Marcuse
der "humanistischen Idee unerschütterliche Treue" (Alfred Schmidt)
bewahrt hat. Ein Beispiel dafür ist der Vortrag über "Humanismus
und Humanität", den er 1962 zum 80-jährigen Bestehen der jüdischen
Hilfsorganisation mit dem Freimaurernamen "Districts-Gross-Loge Kontinental-Europas
XIX" gehalten hat.
In einer Vorstudie zu Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (englisch 1964, deutsch 1967)
entfaltete Marcuse unter dem Titel "Freiheit: zu oder von" einen Grundbegriff
dieses Humanismus. Er bestreitet darin nicht, dass sich das Lebensniveau
und der Wohlstand und damit auch die Freiheiten für immer mehr Menschen
erhöht haben. Aber alle diese Freiheiten bleiben weit hinter dem
zurück, was an realen Möglichkeiten ins Blickfeld kommt, wenn
"die Freiheit zu" durch die "Freiheit von" ergänzt wird: "die Freiheit
von der Notwendigkeit, sein Leben zum Mittel des Existenzkampfes zu machen"
ebenso wie die Freiheit von der Notwendigkeit, bloßes Objekt der
Politik zu sein oder die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen.
Man mag über einzelne spekulativ-utopische Überlegungen Marcuses
zu einem Leben jenseits der Herrschaft des Realitätsprinzips oder
zu einem "libertären Sozialismus" lächeln. Die Kritik an einer
auf Herrschaft, Leistung, Repression und Versagung beruhenden Gesellschaft,
die weit hinter ihren materiellen und kulturellen Möglichkeiten zurückbleibt
und ihre eigenen Freiheitsversprechen durch ihre tägliche Praxis
dementiert, bleibt davon unberührt. Diese Kritik bildet immer noch
eine Herausforderung genauso wie Marcuses Plädoyer für eine
Versöhnung der Menschen mit der Natur - zu einer Zeit formuliert,
als das Wort "Ökologie" nur wenige Fachleute kannten.
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