Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.06.2004, S. 34 (link) Neue Sachbücher Herbert Marcuse: "Die Studentenbewegung und ihre Folgen". Nachgelassene Schriften Band 4. Hrsg. und mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen. Einleitung von Wolfgang Kraushaar. Aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien. 253 S., Abb, geb. Zu Klampen Verlag, Springe 2004, 19,- [Euro]. LORENZ JÄGER Der vierte Band der nachgelassenen Schriften von Herbert Marcuse, auch diesmal wieder von Peter-Erwin Jansen ansprechend ediert, enthält Reden und Schriften der sechziger und frühen siebziger Jahre. Er zeigt die Altersblüte des Revolutionsphilosophen im Kreis der jüngeren Militanten; sympathisierende wie kritische Briefe an Angela Davis, seine Schülerin, sind ebenso aufgenommen wie der Briefwechsel mit Rudi Dutschke. Schon in den ersten Nachkriegsjahren findet man unter den Großen der "Kritischen Theorie" jene Weggabelung angedeutet, die später den einen zum gefeierten Großvater der Studentenrevolte machen sollte, die anderen zu wohlwollenden, dann entsetzten Beobachtern. 1948 trat zwischen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno einerseits, die mit amerikanischer Hilfe das "Institut für Sozialforschung" in Frankfurt wieder aufbauen wollten, und Herbert Marcuse, der am Ziel der Revolution auch jetzt noch festhielt, ein Widerspruch auf, den man zunächst auf sich beruhen ließ, bis er zwanzig Jahre später in der Praxis aufbrach. Marcuses Diagnose lautete 1948, die Welt sei in ein "sowjetisches" und ein "neofaschistisches" Lager gespalten, und in dieser Situation sollte es, so glaubte er, für die "Kritische Theorie" keine Frage sein, wo ihre wahren Freunde zu finden wären. Die Theorie, so schrieb er an Horkheimer - und gemeint war dabei die neomarxistische Theorie des Instituts, an deren Formulierung er in den dreißiger Jahren maßgeblichen Anteil genommen hatte -, die Theorie also "verbündet sich mit keiner anti-kommunistischen Gruppe oder Konstellation. Die kommunistischen Parteien sind und bleiben die einzige anti-faschistische Macht. Ihre Denunziation muß eine rein theoretische sein. Sie weiß, daß die Verwirklichung der Theorie nur durch die kommunistischen Parteien möglich ist und der Hilfe der Sowjetunion bedarf. Dies Bewußtsein muß in jedem ihrer Begriffe enthalten sein. Mehr noch: in jedem ihrer Begriffe muß die Denunziation des Neo-Faschismus und der Sozialdemokratie die der kommunistischen Parteien überwiegen." Soweit das Ziel und die Strategie, wie sie Marcuse Ende der vierziger Jahre formulierte. Für die "theoretische Denunziation" der Sowjetunion fand sich bald eine Form. Es war die Studie zur "Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus", an der Marcuse seit Anfang der fünfziger Jahre arbeitete. Sie erschien 1957. Auch wer sich durch das ungemein doktrinäre Werk mit einiger Geduld hindurcharbeitet, erkennt seine Absicht nicht sofort. Marcuse hatte Rußland niemals besucht, er sprach kein Russisch und war auf englische Übersetzungen der ideologischen Grundsatzartikel angewiesen. Bald kommt man aber bei der Lektüre darauf, daß gerade hier die Pointe liegt: Untersucht wird ein Staat als ideologisches Gebilde. Was Marcuse glaubte erschließen zu können, waren zwei Dinge: Erstens sei die auswärtige Politik der Sowjetunion wesentlich defensiv angelegt, und zweitens sei, wenn ein großer Krieg sich vermeiden lasse, eine langsame Liberalisierung zu erwarten. Eine friedliche Macht sah er, die in Zukunft noch friedlicher sein würde. Wenn dem aber so war, dann konnten die internationalen Spannungen und die regionalen Kriege und Interventionen der sechziger Jahre nur einen anderen Verursacher haben: den Kapitalismus der Vereinigten Staaten. Dies war nun die Botschaft, die Marcuse in den sechziger Jahren landauf, landab in den Universitäten verkündete. In der Epoche des Diskurses mußten die sieben Geißlein mit besserem theoretischen Rüstzeug von den friedlichen Absichten des Wolfs überzeugt werden, und da war es nützlich, auf eine Abhandlung zurückgreifen zu können, die bewies, daß man die Raubgier der Wölfe überschätzt habe. Hinzu kam das bewährte Kreidefressen. Nicht selten gab sich Marcuse in seinen Reden zunächst als Liberaler: "Ich will nicht in Frage stellen, ob die Vereinigten Staaten das Recht haben, in der westlichen Hemisphäre gegen den Kommunismus zu kämpfen", erklärte er 1961 auf einer Kuba-Prostestversammlung an der Brandeis University. Der Kommunismus, so schrieb er ein anderes Mal, nehme "in der heutigen Welt viele Formen an; sie müssen mit dem Ziel einer freien Gesellschaft nicht allesamt unvereinbar sein". Im Mai 1966 behauptete er in Frankfurt, wohin ihn der SDS eingeladen hatte, in Vietnam gehe es keineswegs um eine Bekämpfung des Kommunismus, der Kommunismus sei vielmehr in der Defensive: "Solche Defensivpolitik ist besonders in der Sowjetunion deutlich." Und dort, wo er tatsächlich aggressiv und erobernd vorgegangen sei, etwa bei der Besetzung Tibets durch die Volksrepublik China, habe ein längst überfälliges Reformwerk begonnen: "Es ist eine Tatsache, daß Tibet eines der rückständigsten, barbarischsten und repressivsten Länder der Erde war und daß dort heute nach den von den Chinesen eingeführten Reformen die Verhältnisse besser sind, als sie unter der sogenannten tibetanischen Unabhängigkeit waren." Erst mit dem Pariser Mai 1968 stellte sich Marcuse auf die Seite der linksradikalen Revolte auch gegen die kommunistische Partei, die er für eine verbürgerlichte Kraft hielt. Was er heraufziehen sah, war eine, wie er sagte, "Assimilierung" der sowjetischen und der amerikanischen Gesellschaft. Man glaubt, ein sehr fernes, um so ergreifenderes Echo aus der Jugend des Philosophen zu hören, die er in seinen "Gedanken über Judentum und Israel" beschreibt, die man gleichfalls in den Band aufgenommen hat: "Wir waren eine typische assimilierte deutschjüdische Mittelschichtfamilie. Bei meinen Großeltern gab es einen Sederabend (ein Passahmahl), sie waren aber alle assimiliert." Bürgerliche Assimilation - das war, wie für so viele seiner Generationsgefährten, das Schicksal, gegen das Herbert Marcuse hatte aufbegehren wollen. |