San Diego, 9. Dezember
1970
Marcuse: Die Brutalisierung der modernen Gesellschaft, mit der
sich ihre Ausführungen beschäftigen, scheint mir eine unwidersprechliche
Beobachtung. Nach der Freudschen Theorie wäre jedoch anzunehmen,
daß die sexuelle Befreiung der Gegenwart zu einer Abnahme der Aggression
führen sollte, zu einer Deaggressivierung, doch sieht man Aggressivität
bei Gruppen und bei Individuen aufflammen, die eine viel größere
erotische Freiheit besitzen und sexuelle Zwänge abgelegt haben. Eigentlich
sollte eine Zunahme der Libido zu einer Abnahme der Aggression führen.
Hacker: So einfach ist das eben nicht. Vor allem hat schon Freud
darauf hingewiesen, daß die Äußerungsformen der Triebe
nicht mit diesen selbst verwechselt werden dürfen. In den Manifestationen
der Triebe [346] erscheinen diese weitgehend verändert, legiert und
keineswegs in reiner Form. Von Anfang an mischen sich die Triebe mit den
gegen sie gerichteten Abwehrmechanismen, außerdem treten alte möglichen
Verbindungen, Fusionen, Mischungen und Entmischungen zwischen libidinösen
und aggressiven Formen ein, die ja zudem noch von äußeren und
inneren Organisationen, den sozialen Vermittlungen also, geprägt
werden. In anderen Worten: Die Triebenergie als solche verändert,
verschiebt und verwandelt sich und ist, obwohl sie die verschiedenen Triebäußerungen
speist, von diesen nicht ohne weiteres abzulösen oder aus ihnen herauszufiltern,
um sie quantitativ zu bestimmen.
Marcuse: Mir ist oft vorgeworfen worden, daß ich Freud mechanistisch
oder quantitativ interpretiere. Aber gerade diese Freudsche Idee des Energiereservoirs
bejahe ich, die besagt, daß Triebenergie - sei es in direkter, sei
es in sublimierter Form -, die für ein Ziel verwendet wird, für
ein anderes nicht mehr zur Verfügung steht.
Hacker: Gerade bei der Aggression trifft das aber nicht notwendigerweise
zu. Es gibt viele Beispiele für aggressive Ausdrucksermöglichung,
die zur Gewöhnung an Aggression, zur Habituation und sogar zu einer
Art Aggressionssucht führen. Gelegentlich explosive, aber noch viel
mehr gewohnheitsmäßige Aggression trägt zur allgemeinen
Erhöhung des Aggressionsniveaus, zur Brutalisierung, eher als zur
Entlastung bei.
Marcuse: Das mag sein. Dennoch bedarf es der Erklärung, wieso
die größere sexuelle Freiheit, die Schwächung der autoritären
Vaterbindung, die zunehmende Toleranz des Überich, oder dessen teilweises
Fehlen gesamtgesellschaftlich eher zu einer Zunahme als zu einer Abnahme
der Aggression führt. Eigentlich hätte man - zumindest nach
Freud - das Gegenteil erwarten müssen.
Hacker: Vorerst wäre die Frage zu klären, ob die gegenwärtige
Situation eine wirkliche sexuelle Befreiung und nicht nur eine Enthemmung
auf ganz bestimmten und beschränkten Gebieten darstellt. Ebenso starke,
nur andersartige Tabus mögen sogar intensiver als vorher im Sinne
einer Vergnügungsmoral sozial approbierte und geforderte Kommandos
durchsetzen. So wird man zur Lustsuche und zum vermeintlichen Lustgewinn
verurteilt und verdammt. Freiheit wird zum Gehorsam unter dem Lust- und
Abwechslungszwang.
Marcuse: In einer jüngst erschienen psychoanalytischen Veröffentlichung
wird darauf hingedeutet, daß die Feindseligkeit gegen die triebeinschränkende
Zivilisation trotz der Verminderung von Verdrängung zugenommen hat.
Hacker: Ich weiß nicht, ob das für Verdrängung
im allgemeinen zutrifft und nicht nur für manche, ganz bestimmte
Formen, an denen wir bisher [347] traditionell das Verdrängungsmodell
entwickelt haben. Sowohl die Verdrängungsinstanzen als auch die verdrängten
Inhalte haben sich heute wesentlich geändert.
Marcuse: Eine sehr wesentliche Änderung ist die Abnützung
des Selbstvertrauens der Gesellschaft unter der Einwirkung zunehmender
Widersprüche innerhalb der Gesellschaft. jede Gesellschaft bedarf
eines starken Glaubens an die eigenen Werte, die die gesellschaftliche
Gesundheit und Normalität definieren und das alltägliche Zusammenspielen
und Funktionieren der Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit garantieren.
Wenn diese Sicherheit erschüttert ist, verbreiten sich nicht nur
Unzufriedenheit und psychische Störungen, sondern auch alle Arten
von sozialen Fehlhaltungen, wie Untüchtigkeit, Gleichgültigkeit,
Nachlässigkeit, Widerstand gegen Arbeit und gegen das ganze Leistungsprinzip.
Hacker: Der säkuläre Erscheinungswandel psychischer
Konstellation und Charakterbildungen läßt sich sowohl im täglichen
Leben wie in der psychiatrischen Klinik leicht feststellen. Neurosen und
sonstige seelische Störungen haben sich heute zwar nicht vermindert,
aber in ihrer deutlich aggressivierten Äußerungsform sehr verändert.
Sogenannte klassische Fälle kommen immer seltener vor, dafür
findet man eine Häufung früher seltener Kombinationen und Mischformen
von soziopathischen und neurotischen Verhaltensweisen mit Sucht- und psychosomatischen
Elementen. Außerdem hat die zweifellos zu beobachtende entscheidende
Veränderung der Sexualmoral zu neuen Erwartungsvorstellungen geführt,
so daß auch Veränderungen auf anderen Gebieten der sozialen
und der inneren Organisation möglich und wünschenswert erscheinen.
Marcuse: Die Einführung des Begriffes Erwartung scheint mir
nicht in der Freudschen Theorie begründet, außerdem ist mir
dies ein wenig zu psychologisch.
Hacker: Erwartung ist eine wichtige Dimension des Realitätsprinzips.
Die ich-gesteuerte Realitätsprüfung schließt die Kenntnis
und Einschätzung der vorhandenen kollektiven und individuellen Möglichkeiten
notwendigerweise ein. Auch das individuelle Bewußtsein verändert
sich durch soziale, technische und kollektiv-psychologische Fortschritte
oder Rückschritte. Die Tatsachen selbst und vor allem die Verbreitung
und Zurkenntnisnahme dieser Tatsachen sind potentiell persönlichkeitsverändernde
Faktoren.
Marcuse: ich sehe hier eine prinzipielle Schwierigkeit. Die Psychoanalyse
beschäftigt sich ja vorwiegend, wenn nicht ausschließlich,
mit Individuen. Wie kommt man von diesen individuellen Mechanismen zu
gesellschaftlichen Vorgängen? Ist z. B. anzunehmen, daß viele
oder [348] die meisten Amerikaner dieselbe oder eine ähnliche Familiengeschichte
haben wie der des Massenmordes angeklagte Leutnant Calley, der gegenwärtig
wegen seiner behaupteten Teilnahme am My-Lai-Massaker vor Gericht steht?
Hacker: Zu eben diesem Problem hoffe ich durch das Aufzeigen der
Verwandlungen der Aggression einen Beitrag geleistet zu haben. Das gesellschaftliche
Zusammenleben von Menschen und die Erziehung hiefür bedingt und erfordert
schon aus Sachzwang gewisse mehr oder weniger formalisierte Verhaltensregeln
und Gesetze, gleichgültig ob diese vorerst durch Unterwerfung unter
Herrschaft, durch allgemeine Zustimmung oder durch eine Kombination von
beiden zustande gekommen sind. Gesellschaftliche Gesetze sind mit Sanktionen
versehen und resultieren regelmäßig in Maßnahmen, die
Triebverzicht fordern und erzwingen. Die Formalisierung des teilweisen
Triebverzichts und des darauf beruhenden Befriedigungsversprechens erfolgt
durch kollektive Veräußerlichung in äußeren Institutionen
wie durch Verinnerlichung in inneren Instanzen, dem Überich und dem
Ich. Die Aggression, die als Delikt verboten ist, scheint als Sanktion
geboten. Die unvermeidlich in inneren und äußeren Instanzen
enthaltene latente Aggression, zur Aggressionskontrolle und Aggressionseinschränkung
verwendet, erspart manifeste Gewalt, ist somit für jede Art der Stabilität
von sozialer und Persönlichkeistsstruktur, die auch von aggressiver
Energie gespeist werden, verantwortlich. Latente Aggression ist auch Aggression;
ihr Latenzzustand garantiert noch nicht deren Berechtigung. Die in gewissen
Herrschaftssystemen enthaltene, latente Aggression kann sehr unberechtigt
sein und unter dem Deckmantel der Aggressionskontrolle tatsächlich
in unkontrollierte Ausübung umschlagen.
Marcuse: Die Auflockerung der gesellschaftlichen Spielregeln muß
auch Veränderungen im Überich bewirken. Damit führt aber
doch sicherlich die Erfindung der modernen instrumentalen Aggression,
nämlich Aggression mit Hilfe komplizierter, technischer Apparate
und Waffen zu einer Erleichterung der Verdrängung des Schuldgefühls:
Subjekt der Aggression ist der Apparat, nicht das Individuum, das ihn
nur bedient.
Hacker: ja, ich bin sogar der Meinung, daß dieses Schuldgefühl
vielfach gar nicht zustande kommt, daher nicht verdrängt werden muß,
da durch die vorherige, fließbandmäßige Erzeugung von
gutem Gewissen die eigene Aggression häufig unter Etikettenschwindel
anders benannt und gar nicht mehr als Aggression erlebt wird.
Marcuse: Gewiß ist dieses Argument richtig. Entscheidend
ist jedoch immer wieder, welchem Ziel der Aggressionstrieb dient: das
Ziel bestimmt den "Instinktwert" der Aggression. Das hängt nicht
so sehr von [349] der Tathandlung als solcher ab, sondern von ihrem Zweck.
Unser Freund Leo Löwenthal hat darauf hingewiesen, daß in Shakespeares
"Sturm" Ferdinand zu einer aggressiven Tätigkeit, nämlich dem
Bäume fällen, veranlaßt wird. Diese an sich sehr aggressive
Tätigkeit verändert aber ihren Sinn, da sie dem "erotischen"
Ziel dient, aus den gefällten Baumstämmen ein Haus zu errichten,
das für Ferdinand und seine Braut das neue Heim werden soll. Dieses
erotische Ziel rechtfertigt die aggressive Teilhandlung: sie dient der
Schaffung einer lustbesetzten Umgebung, die Lebenserweiterung und Lebenserfüllung
verspricht.
Hacker: Zur Lusterhöhung müßten dann in einer
Art Hürdensuche Schwierigkeiten eingebaut werden, die zu überwinden
wären. Im Glücksspiel werden z. B. durch die Spielregeln künstliche
Hindernisse und durch die Ungewißheit des Ausgangs Angst erzeugt,
die im großen und ganzen - sogar im Verlustfall - als lustbetont
erlebt werden; aber natürlich erst recht, wenn man gewinnt. Das ist
vielleicht analog der vorher besprochenen Situation: früher hat ein
Flirt und Seitensprung, der das Überspringen oder Unterlaufen innerer
Barrieren und äußerer sozialer Schranken zur Voraussetzung
hatte, ein weit höheres Maß an Befriedigung, einschließlich
Triebentlastung, bedeutet als die freigegebene, egalitär allen zugängliche,
hindernisfreie "reine" Triebabfuhr des ungestraften Vernaschens möglichst
vieler Partner. Die Quantität mag der Befriedigungsintensität
verkehrt proportional sein.
Marcuse: Ebenso wie die reine Quantität der von einer repressiven
Gesellschaft angebotenen Güter und Dienstleistungen, die die durch
den Sieg über Mangel errungene Befreiung eindämmt. überfluß
und Wohlstand sind in genau dem Maß repressiv, wie sie die Befriedigung
von Bedürfnissen fördern, die es nötig macht, die Hetzjagd
des Existenzkampfes fortzusetzen. Eine qualitative Änderung setzt
daher eine quantitative, nämlich die Reduktion der Überentwicklung,
voraus.
Hacker: Die Psychoanalyse beschreibt vor allem die Verminderung
des Spannungsniveaus im Organismus, die Triebabfuhr und Energieentladung,
als lustvoll und umgekehrt, die Stauung von Triebenergie durch verhinderte
Abfuhr- und Ausdrucksmöglichkeiten als Unlust. Unter gewissen Umständen
wird aber auch die Zunahme von Erregung innerhalb gewisser Grenzen als
lustvoll empfunden. Reizsuche, Erregungslust, Experimentierfreude und
derartiges mehr fallen in diese Kategorie.
Marcuse: Allerdings nur als Vorstufe zur Befriedigungslust. Dies
hat Freud späterhin zum viel weiter gespannten Begriff des Eros -
gegenüber dem engeren der Sexualität - geführt: Eros als
die Lustbesetzung des ganzen Körpers, wie auch die von mir betonte
libidinöse Besetzung der Umwelt, um den Spielraum des Eros zu vergrößern.
Hier handelt [350] es sich nicht mehr um lokalisierte Momente, sondern
um eine radikale Veränderung der Gesellschaft.
Hacker: Was meinen Sie konkret damit?
Marcuse: Zum Beispiel die Zerstörung der militärischen
Kommandostationen und Installationen der aggressiven imperialistischen
Mächte scheint mir im Interesse des Eros gelegen zu sein!
Hacker: Rechtfertigt das "erotische Interesse"
die Zerstörung aller Gewaltzentren, auch die der verteidigenden Partei?
Marcuse: Natürlich nicht. An der Unterscheidung zwischen
angreifender und verteidigender Aggression muß festgehalten
werden. Wenn z. B. ein Verbrecher, mit einer Axt bewaffnet, in mein Haus
einbricht und meine Frau attackieren will, habe ich nicht nur das Recht,
sondern auch die Pflicht, Gegengewalt zu gebrauchen, ihn gewaltsam unschädlich
zu machen. Das ist dann eben nicht Aggression, sondern Verteidigung. So
handelt auch der Chirurg, der ein gangränöses Bein amputiert,
im Dienst einer guten Sache. Es kann die Operation nicht als aggressiv
bezeichnet werden, obwohl die Handlung der Beinamputation an sich und
außerhalb des besonderen Zusammenhangs aggressiv ist.
Hacker: Auf Grund dieser grausam vereinfachenden Beispiele machen
Sie es sich tatsächlich sehr einfach.
Marcuse: Weil es tatsächlich meistens ebenso einfach ist.
Hacker: Gerade das möchte ich bestreiten. Ich glaube, nachweisen
zu können, daß jede Aggression, unbeschadet ihrer objektiven
Berechtigung, die Tendenz hat, zuerst einmal vom Ausführenden oder
einem Befehl Unterstehenden als berechtigt empfunden zu werden. Auf das
eigene Erlebnis, wenn es mit unmittelbarer Evidenz überzeugend zu
sein scheint, kann man sich eben gerade nicht verlassen.
Marcuse: Es kann sich um Selbsttäuschung handeln, oder um
Vereinfachung, Rationalisierung, z. B. unter Berufung auf vorhergegangene
erlittene Aggression, gegen die man sich nur wehren wollte. Es handelt
sich um die Evidenz von Tatsachen, und nicht einfach um das, was jemand
empfindet oder sagt, vielleicht auch ganz ehrlich und wahrhaftig sagt.
So ist z. B. der Vietnamkrieg eindeutig eine Aggression der Amerikaner
und eine berechtigte Verteidigung seitens der Nordvietnamesen. Und ebenso
klar waren die Verhältnisse bei der unberechtigten Aggression der
Sowjetunion zur Besetzung und Unterjochung der Tschechoslowakei.
Hacker: Wie ist das aber im arabisch-israelischen Konflikt?
Marcuse: Dieser Fall ist tatsächlich nicht so offensichtlich
und daher schwerer zu entscheiden. Natürlich gibt es keine absoluten,
in jedem Fall anwendbaren Kriterien. Aber der Grenzfall kann die Gültigkeit
des exemplarischen "Normalfalls" nicht widerlegen, nur einschränken.
[351]
Hacker: Gibt es zumindest Vorbereitungen bzw. Stufenleitern zur
Formulierung von Unterscheidungskriterien zwischen defensiver und aggressiver
Gewalt? Vorerst erscheint der Gegensatz nur zu plausibel. Was der guten
Sache dient, was erweiternd und lebensfördernd ist, darf sich auch
der Aggression bedienen. Was lebenszerstörend ist, fällt unter
die aggressive Gewalt. Gerade dies scheint mir eben das Problem, das wenn
auch nur schwer - zu lösen ist. Täuschende Einfachheit verhindert
jede Lösungsmöglichkeit. Nochmals: Was sind die Unterscheidungskriterien,
und wer macht die Unterscheidung?
Marcuse: So schwierig ist das nun wieder auch nicht. Alles, was
dem Leben, besonders dem glücklichen Leben, dient, ist gut. Reduktion
der repressiven Erlebens- und Lebensbedingungen ist schließlich
das Ziel der erotischen Instinkte. Das Lebensfordernde kann nicht Unrecht
bedeuten, selbst wenn zur Schaffung dieser Bedingungen gewisse Zwangsmaßnahmen
nötig sind.
Hacker: "Das Leben ist der Güter höchstes nicht?"
Marcuse: Nicht jedes Zitat drückt eine Wahrheit aus. Gewiß
setzt selbst die vernünftige, objektive, wissenschaftliche Kriterienuntersuchung
ein Werturteil voraus. Wertfreie Wissenschaft ist Ideologie - wenn auch
sehr erfolgreiche, nützliche, rentable Ideologie.
Hacker: Sollte aber nicht das Werturteil in der Untersuchung am
Ende stehen statt am Anfang?
Marcuse: Es steht, unausgesprochen, am Anfang. Den Daten der Erfahrung
haftet eine objektive Zweideutigkeit an, wie ich in meinem Buch: "Der
eindimensionale Mensch� ausgeführt habe. Vernunft ist nie wertfrei.
ich habe auch einen Satz Whiteheads zitiert: "Es ist die Funktion der
Vernunft, die Kunst des Lebens zu fördern." Im Hinblick auf diesen
Zweck ist Vernunft "die Lenkerin des Angriffs auf die Umwelt", der sie
den "dreifachen Impuls verdankt: erstens zu leben, zweitens gut zu leben,
drittens besser zu leben". In diesem Sinn wollen wir jetzt ein Glas Wein
oder Whisky trinken. Halten Sie das auch für aggressiv?
Hacker: Ausnahmsweise nicht. Aber wenn ich mich auch nur indirekt
und in sublimierter Form, z. B. in einer Debatte, angegriffen fühlte,
könnte ich mir schon vorstellen, daß ich dann alles, was der
Opponent sagt und tut, als aggressiv interpretieren würde, sogar
wenn er mir Speise und Trank anbietet. Das Werturteil, das zwischen aggressiv
und defensiv vorentscheidet, nimmt die objektive Prüfung der Umstände
vorweg und macht sie überflüssig.
Marcuse: Nun fassen Sie aber Aggression so weit, daß der
Begriff seine Bedeutung zu verlieren scheint. Für Sie ist ja dann
nahezu jede Lebensäußerung Aggression. [352]
Hacker: Genau das hat man seinerzeit der Psychoanalyse in bezug
auf Sexualität vorgeworfen. Wenn Greifen, Schauen, Fragen sexuelle
Elemente enthalten, dann sei ja alles einfach nur Sexualität. Notwendigerweise
muß vorerst dieser Eindruck entstehen, wenn man, wie ich es bei
der Aggression zu tun versuche, die verborgenen, kaschierten, anders benannten
Äußerungsformen der Aggression in ihren Schlupfwinkeln, in
ihrer latenten und kalten Form (die übrigens Ihrer instrumentalen
Aggressivität sehr ähnlich ist) aufspüren will. Es ist
zwar nicht alles aggressiv, oder doch viel mehr, als wir bisher vermutet
haben, vor allem vieles von dem, was sich als Aggressionskontrolle oder
als rein defensive Abwehrmaßnahme empfindet und ausgibt.
Marcuse: Man sollte da vorerst schon gewisse Unterscheidungen
vornehmen. Gewalt sollte man nur eine aggressive Tathandlung physischer
Natur nennen; die primäre Aggressivität ist triebhaft, sie kann
bis zur Gewaltlosigkeit sublimiert werden.
Hacker: Innerhalb des Globalbegriffs der Aggression sind sehr
differenzierte Beschreibungen der keineswegs miteinander identischen oder
austauschbaren aggressiven Phänomene, wie Gewalt, Macht, Grausamkeit,
Brutalität, Unterwerfung, Kontrolle usw. von großer Wichtigkeit.
Ich will auch keineswegs behaupten, daß diese verschiedenen Erscheinungsformen
ausschließlich nur aggressive Äußerungen oder daß
alle Aggressionsäußerungen gleichwertig oder gleich gültig
sind. Die Legitimierungsfrage ist gewiß entscheidend, nur bin ich
eben der Meinung, daß sie nicht auf Grund der Unmittelbarkeit des
eigenen Erlebnisses oder auf Grund abstrakter Kriterien, wie dem guten
Leben, die sich zur ideologischen Rechtfertigung und Rationalisierung
sowie zur oratorischen Verschleierung von nahezu allem eignen, vorentschieden
werden kann.
Marcuse: Sicher muß in jedem Fall ganz konkret die Sachlage
nachgeprüft und entschieden werden. Ich behaupte jedoch, daß
dies meist möglich und nicht einmal allzu schwierig ist. Natürlich
sind letzten Endes die zu entwickelnden Kriterien nicht rein psychologisch,
können es gar nicht sein, sondern politisch und moralisch.
Hacker: Der Meinung bin ich auch. Allerdings scheint mir dies
der unbedingt notwendigen Kriterien- und Legitimationsbestimmung auszuweichen.
Mir ist noch immer nicht klar, wer nach welchen Gesichtspunkten legitimiert
ist, diese moralischen Entscheidungen zu treffen, bzw. in deren Namen
Opfer zu fordern und zu erzwingen. Es kommt immer wieder auf dasselbe
hinaus: auf die zwar energisch und pathetisch postulierte, aber nirgends
nachgewiesene Unterscheidung zwischen berechtigter und unberechtigter
Aggression, zwischen defensiver und aggressiver Gewalt, zwischen guten
und schlechten Bedürfnissen. [353]
Marcuse: Dies ist zwar nicht ganz dasselbe, doch sind prinzipiell
diese Unterschiede durchaus feststellbar. Alles, was dem Schutz der Lebenstriebe
dient, ist besser als das Gegenteil. Es gibt rationale Autorität.
Der Flugkapitän hat jede Berechtigung, für die Flugdauer völlige
Autorität zu beanspruchen und die Disziplin der Fluggäste, wenn
nötig, zu erzwingen. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen:
wenn zwei Buben raufen, kann man leicht feststellen, wer angefangen hat.
Wenn z. B. der Junge A den Jungen B, der sich ruhig und freundlich mit
seinem Spielzeug beschäftigt, plötzlich anfällt, ist doch
der Junge A eindeutig der Angreifer, der Junge B aber das Opfer, das das
Recht hat, sich defensiv zur Wehr zu setzen. Auf jeder Ebene gibt es solche
Fälle, die sich grundsätzlich leicht erforschen lassen.
Hacker: Um bei Ihrem vereinfachenden und daher irreführenden
Beispiel zu bleiben: wie ist es, wenn der Junge B regelmäßig
oder zumindest sehr häufig - sagen wir zehnmal in den letzten zwei
Wochen - sich scheinbar friedlich spielend, plötzlich und ohne Vorbereitung
auf den Jungen A gestürzt oder einen schweren Stein auf ihn geworfen
hat? Würde diese Sachlage, die auch dem aufmerksamen Beobachter nicht
ohne weiteres vorher einsichtig ist, den Jungen A auf Grund von Wahrscheinlichkeitsberechnung,
die auf seiner konkreten Erfahrung beruht, dazu berechtigen, vorbeugende
Selbstschutzmaßnahmen zu ergreifen?
Marcuse: Gewiß, in diesem Fall wäre das nicht nur berechtigt,
sondern sogar geboten. Es wäre rationale Repression. Ich will noch
ein anderes Beispiel anführen: Ein Schüler, der in einer Klasse
ohne Grund den Unterricht stört, muß und soll bestraft werden.
Das ist berechtigte defensive Aggression seitens des Kollektivs. Anderseits
muß jener Schüler, der einen schlechten Lehrer durch berechtigte
Fragen aus dem Konzept bringt und zum Störungsfaktor wird, geschützt
werden. In diesem Fall sollte der Lehrer besser informiert oder ausgetauscht
werden.
Hacker: Wir treffen immer auf dasselbe Thema in verschiedenen
Variationen. Was würden Sie übrigens mit dem, den guten Schulunterricht
störenden und daher bösen Schüler tun?
Marcuse: Individuelle psychologische Behandlung wäre die
Lösung.
Hacker: Wir wissen aus kriminologischer Erfahrung, daß die
Mehrzahl der Gewaltverbrechen von einer ganz kleinen Minderheit begangen
wird, die durch ihre Tendenz zum Rückfall und Rezidivismus wohlbekannt
ist, die sogar mit relativ geringer Fehlerquelle auf Grund bekannter Vorbereitungshandlungen
vorausbestimmt werden kann. Wären Sie für eine präventive
Schutzhaft für diese Gruppe?
Marcuse: Präventive Schutzhaft gehört zum Arsenal des
Faschismus. Anders steht es mit "präventiver Erziehung", unter Beobachtung
strikter Vorsichtsmaßnahmen gegen Mißbrauch der Autorität.
[354]
Hacker: Das scheint mir eben das Problem, weil hier Brauch und
Mißbrauch so nahe beieinander liegen und übrigens, wie unser
Gespräch zeigt, für mich nicht so leicht unterscheidbar sind.
Die amerikanische Regierung hat eben jetzt, unter begeisterter Zustimmung
der Bevölkerungsmehrheit, einen Gesetzesentwurf eingebracht, der
bei Verbrechensvermutung generell die Untersuchungshaft statt der bisher
üblichen Kaution vorsieht: also präventive Anhaltung vor der
und bis zur Schuldbestimmung zur Vermeidung der Wiederholungsgefahr, die
nicht erst fallweise bewiesen werden muß. Derartige Vorschläge
appellieren an die Vernunft und an den Anspruch der Gesellschaft, sich
gegen Übergriffe und Verbrechen zu schützen. Die Fehleinschätzungen
werden zudem niemals sichtbar. Der später unschuldig Befundene, oder
auch der Schuldige, der in der Zwischenzeit nicht rezidiv geworden wäre,
sind dann eben "umsonst" gesessen. Die Allgemeinheit stört das
freilich wenig, wenn Gewalt vor Recht geht statt umgekehrt. Bei dem gegenwärtigen
Stand der Mißbrauchswahrscheinlichkeit wäre ich aber nicht
bereit, ein derartiges Risiko der Präventivverwahrung zu verantworten.
Marcuse: Das Risiko scheint zur Geschichte der Menschheit zu gehören,
solange diese Geschichte eine der Unterdrückung und Ausbeutung ist.
Wir sind im Bann einer entsetzlichen doppelten Moral: wir denken wenig
an die Hekatomben von Menschen, die von den Herrschenden im Interesse
der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft geopfert worden sind, aber wir
werden entsetzlich sensitiv, wenn es sich um die Gewalt eines wirklich
revolutionären Regimes handelt, das ernsthaft bestrebt ist, Elend
und Ausbeutung abzuschaffen. -- Ich bin gegen sinnlose Gewaltakte (auch
wenn sie noch so idealistisch motiviert sind), die nur dem Bestehenden
in die Hände spielen. In der Geschichte war Terror nur wirksam, wenn
er von Gruppen ausgeübt wurde, die schon an der Macht waren. Individueller
Terror verpufft. Die edelsten Anarchisten blieben gesellschaftlich wirkungslos.
Dagegen haben die Jakobiner sowie auch Hitler und Stalin eine nur zu furchtbare
Wirkung gehabt, nachdem sie die Macht in Händen hatten.
Hacker: Wie soll aber der Zugang zur Macht bzw. die Machtergreifung
bewerkstelligt werden? Wie anders als durch äußerste Aggression
in einer zumindest sehr riskanten Übergangsperiode stellen Sie sich
die Hervorbringung des nichtaggressiven neuen Menschentypus vor?
Marcuse: Der vom heutigen, gängigen Typus sehr verschiedene
Mensch, der wahrhaft befriedete, wahrhaft freie Mensch, wie ihn etwa die
Jugendrebellion anstrebt, kann natürlich nicht allein auf Grund enthusiastischer
Vorstellungen der Studenten zustande kommen. Die tatsächliche Veränderung
ist auf die Arbeiterklasse angewiesen, die allerdings [355] in der gegenwärtigen
Situation in den Vereinigten Staaten deshalb keine revolutionäre
ist, weil sie auf Grund der ökonomischen Wohlstandsverhältnisse
nicht bereit ist, sich an revolutionären Aktionen zu beteiligen.
Freilich wird dies nicht immer so bleiben. Ein kapitalistischer Wohlfahrtsstaat
mit Wohlstand und Vollbeschäftigung ist auf die Dauer nicht vorstellbar.
Die inneren Gegensätze des Systems, d. h. der Widerspruch zwischen
dem vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum und dessen miserabler Verwendung
muß früher oder später zu den von Marx prophezeiten Krisen
führen, die schließlich die revolutionären Voraussetzungen,
schlimmstenfalls auch die Voraussetzungen für Faschismus, schaffen.
jedenfalls ist grundsätzliche Veränderung das Resultat eines
langen Prozesses, der von den Massen getragen sein muß.
Hacker: Ernst Bloch unterscheidet zwischen Ausnützung und
Unterdrückung, die sich in den westlichen Staaten der Gegenwart vermindert,
und zwischen Beleidigung und Entrechtung, die womöglich noch zugenommen
haben. Glauben Sie, daß das Unrechtsgefühl, das wieder mit
Erwartungsvorstellungen einer real möglichen Veränderung zusammenhängt,
zur Schaffung einer aussichtsreichen revolutionären Situation genugen
wird?
Marcuse: Das ist schwer zu sagen. Schließlich repräsentiert
der allgemeine Wohlstand auch eine wirkliche Befriedigung und nicht nur
einen Ersatz. Allerdings sind die herrschenden Mächte sehr empfindlich
und treffen Vorsorge, daß die von ihnen beherrschten Menschen und
Gruppen, z. B. durch die Massenmedien, systematisch im Zustand der Scheininformiertheit
und Dummheit gehalten werden. Doch wird das alles dem westlichen Kapitalismus
nicht ewig nützen. Ganz nach der These von Marx muß die Profitrate
der Unternehmer fallen, sobald die Kostenabwälzung auf den Konsumenten
ihre Grenze erreicht hat. Es ist ein klassischer Widerspruch des kapitalistischen
Systems, daß alle Steuerungsversuche das Fortbestehen dieses Systems
bedrohen. In der ganzen Geschichte gab es noch kein System, das ewig überlebt
hat, was allerdings in der heutigen Situation nur ein schwacher Trost
ist. Jedenfalls hat es aber keinen Sinn, in einer dafür noch nicht
reifen Situation revolutionär sein wollende Akte zu setzen, die nur
unnötige Märtyrer schaffen.
Hacker: Sie würden also zugeben, daß die Vorbedingungen
zur grundsätzlichen Veränderung nicht nur in ökonomisch-materiellen
Faktoren bestehen, sondern auch in solchen, die bisher als psychologisch,
als Überbauelemente, abgewertet wurden. Ich bin der Meinung, daß
die Gefühle der Entrechtung, bzw. der Ohnmacht, zu sehr greifbaren
Realfaktoren werden können.
Marcuse: Das ist gewiß richtig. Aber das faktische Monopol
der Massenmedien [356] wirkt der Entwicklung des Bewußtseins entgegen.
Daher halte ich das Eingreifen in Kommunikationsprozesse für entscheidend.
Die progressiven Kräfte müßten versuchen, in den Zeitungsmarkt
einzudringen, um an der Kontrolle der Massenmedien teilzuhaben. Im hypothetischen
Fall einer Totalkontrolle dieser Medien könnte man wahrscheinlich
das Bewußtsein der Massen innerhalb von drei Wochen entscheidend
umformen.
Hacker: Einige Wochen sind wahrscheinlich nicht ausreichend, aber
jahrelange Totalkontrolle über alle Kommunikationsmittel würde
unter Verfolgung aggressiver Ausschlußtaktiken bezüglich aller
Andersdenkenden, die allerdings unverwechselbar mit totalitärer Praxis
wären, das gewünschte Resultat wohl erzielen. Eben dies schiene
mir aber weder wünschenswert noch realisierbar.
Marcuse: Wahrscheinlich nicht. Man sollte jedoch die Alternative
Reform - Revolution nicht als einen einander ausschließenden Gegensatz
sehen. Als Hegelianer bin ich der Ansicht, daß quantitative Veränderungen
einer gewissen Größenordnung zum qualitativen Umschlag führen
können.
Hacker: Da stimme ich Ihnen völlig zu; es gibt auch keinen
unmittelbaren Gegensatz zwischen Evolution und Revolution, schon deshalb,
weil revolutionäre Veränderung als Drohung oder Utopie eine
evolutionäre Möglichkeit, ein evolutionäres Motiv darstellen
kann. Doch ist Revolution nicht unbedingt aggressiver oder gewaltsamer
als das Quantum an latenter, institutionalisierter Gewalt, das verwendet
wird, den Evolution genannten Prozeß in Gang zu bringen oder zu
erhalten.
Marcuse: Richtig. Es gibt ja sehr gewaltsame Gegenrevolutionen
und Herrschaftssysteme, um Revolution zu verhindern und ihr zuvorzukommen.
In Brasilien z. B. verhindert ein immer brutaler werdendes Herrschaftssystem
mit allen vorhandenen Gewalt- und Propagandamitteln, unbeschadet von Verlusten
an Menschenleben und Menschenglück, die Geltendmachung gerechter
revolutionärer Ansprüche. Der Verweigerung der Freiheit und
selbst ihrer Möglichkeit entspricht die Gewährung von Ungebundenheit
dort, wo sie die Unterdrückung stärkt. Nicht nur die Mittel
und Ziele, sondern auch die instinktiven Quellen sind bei Gewalt und Gegengewalt
verschieden; an dieser Unterscheidung muß festgehalten werden.
Hacker: Ober die Kriterien dieser Unterscheidung würde ich
konkret mehr wissen wollen. Vor allem über das, was Sie "lnstinktwert"
nennen, denn heute bietet sich dank psychologischer und technischer Entwicklungen
vielleicht zum ersten Mal die historische Chance, uns den gesellschaftlichen
Spielregeln nicht nur zu unterwerfen oder uns ihnen zu verweigern, sondern
beim Spielregelentwurf mitzuwirken. [357]
Marcuse: Darin liegt jedoch ein Widerspruch. Man kann nicht vorschreiben,
wie sich freie Menschen einrichten sollen; hielten sie sich nach vorgegebenen
Vorschriften, wären sie ja schon keine freien Menschen mehr. Allerdings
sind, wie wir aus der Praxis der Naturbeherrschung wissen, gewisse Sachzwänge
als Bedingungen für Freiheit zu erkennen: Nicht Beherrschung von
Menschen, sondern Verwaltung von Sachen.
Hacker: Dies scheint mir kein sehr schlüssiges Kriterium,
denn schließlich stehen Sachen symbolisch für den Besitzer,
werden vom Sachverwalter und Sachbesitzer geschützt und verteidigt,
als wären sie ein Stück von ihm. Um an die Sachen überhaupt
heranzukommen, müßte man vorerst die Personen, die sich gewohnheitsmäßig
oder fetischistisch mit den Sachen identifiziert haben, aggressiv ausschalten.
Das führt auf kurzem Umweg wieder nur zur skizzierten Situation des
Entscheidungsdilemmas.
Marcuse: Die wichtigen Entscheidungen werden uns ja von den sehr
identifizierbaren und nicht anonymen Wirtschaftsmächten und -kräften
abgenommen. Während ich der Meinung bin, daß ein unqualifizierter
Verzicht auf jede Gewalt zur politischen Hilflosigkeit verurteilt, muß
man doch sehr wohl Unterscheidungen machen. Leider gibt es so etwas wie
ein geringeres Übel, das man in gewissen historischen Situationen
wählen muß, um größeres Übel abzuwehren und
zu verhindern.
Hacker: Nun sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt: Wie erkennt
jemand, wie ich, dem es offenbar am Zugang zu unmittelbar evidenten Entscheidungsgrundlagen
mangelt, was gute oder schlechte, berechtigte oder unberechtigte Aggression
ist. Ich möchte nicht mißverstanden werden: natürlich
fälle auch ich sehr bestimmte Werturteile und habe ganz konkrete
Anschauungen über gute und böse (zumindest über bessere
und schlechtere) Entwicklungen und Maßnahmen. Ich bekenne mich zu
meinen Überzeugungen, stehe für sie ein, kämpfe für
sie und glaube an sie, vielfach sehr intensiv und ohne Einschränkung.
Nur mißtraue ich aus psychologischen und sozialpsychologischen Gründen,
die selbstverständlich auch auf mich zutreffen, dem pseudoinstinktiven
Erlebnis der Unmittelbarkeit. Als handelnder Mensch glaube ich an gewisse
Dinge und glaube zu wissen, was ich zu tun und zu unterlassen habe, als
erkennender Mensch jedoch muß ich mir bewußt sein, daß
ich trotz meiner Gefühle und Überzeugungen nicht immer verläßlich
darüber unterrichtet bin, wann, wo und wie ein Triebverzicht, ein
Opfer, ein Gewaltakt, legitimiert und notwendig oder Teil eines kleineren
Übels ist, und wann nicht. Genau das ist ja die Frage nach den Kriterien.
Marcuse: Nun, meine Definition wird Ihnen wiederum zu philosophisch
erscheinen. Ich kann nur wiederholen: Das Kriterium ist das, was [358]
lebensbejahend ist, was der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten,
menschlichen Glücks und Friedens dient. Ich weiß keine bessere
Definition, ich bin einfach nicht gescheit genug.
Hacker: Vielleicht ist heute dazu noch niemand gescheit genug,
doch gilt es, in der Zukunft hoffentlich im Dienst der Lebensbejahung,
der auch dieses aggressive Gespräch gedient hat, gerade diese Art
Gescheitheit herbeizuführen und zu vermehren, um wirksame Gewaltalternativen
und Rettungsmöglichkeiten zu finden oder zu erfinden.
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