Jerusalem
Post, January 2,
1972
Reprinted in: Peter-Erwin Jansen (ed.), Herbert Marcuse, Nachgelassene
Schriften 4, Die Studentenbewegung und ihre Folgen (Zu Klampen,
2004).
source of this text: Heinz
Kobald's aol hometown page (Munich)
Israels
Gewalt
Le Monde diplomatique Nr. 7330, April 8, 2004, 232 lines:
HERBERT MARCUSE
MARCUSE ÜBER DAS NAHOSTPROBLEM - "Das ist noch Utopie"
Im Jahr 1971 reiste der Philosoph Herbert Marcuse erstmals nach Israel.
In der "Jerusalem Post" beschrieb er seine politische Einschätzung
des Konflikts.
Von HERBERT MARCUSE
Viele meiner hiesigen Freunde, besonders unter den Studenten, haben mich
gefragt, wie ich die Situation einschätze. Ich antworte ihnen mit
dieser Erklärung. Es ist eine persönliche Meinungsäußerung,
die auf Gesprächen mit vielen Menschen - Juden und Arabern - in verschiedenen
Teilen dieses Landes und auf gründlicher Lektüre von Dokumenten
und Sekundärliteratur beruht. Ich bin mir ihrer Grenzen vollauf bewusst;
ich stelle sie nur zur Diskussion.
Ich glaube, dass der historische Zweck der Gründung des Staates Israel
darin bestand, eine Wiederholung von Konzentrationslagern, Pogromen und
anderen Formen der Verfolgung und Diskriminierung zu verhindern.
Diesen Zweck, der für mich Teil des weltweiten Kampfes für Freiheit
und Gleichheit aller verfolgten rassischen und nationalen Minderheiten
ist, unterstütze ich voll.
Unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen setzt die Verfolgung
dieses Zwecks die Existenz eines souveränen Staates voraus, der verfolgte
oder von Verfolgung bedrohte Juden aufnehmen und schützen kann. Hätte
ein solcher Staat existiert, als das Naziregime an die Macht kam, dann
hätte er die Vernichtung von Millionen Juden verhindern können.
Hätte ein solcher Staat anderen verfolgten Minderheiten offen gestanden,
auch den Opfern politischer Verfolgung, dann hätte er noch mehr Menschenleben
gerettet.
In Anbetracht dieser Tatsachen kann jede weitere Diskussion nur auf
der Grundlage geführt werden, dass Israel als souveräner Staat
anerkannt wird und
dass zugleich die Bedingungen berücksichtigt werden, unter denen
er gegründet wurde, nämlich das Unrecht, das dabei der arabischen
Bevölkerung widerfahren ist.
Die Gründung Israels war ein politischer Akt, ermöglicht von
den Großmächten in Verfolgung ihrer eigenen Interessen.
Die der Staatsgründung vorhergegangene Periode der Besiedlung und
die Staatsgründung selbst erfolgten ohne Rücksicht auf die Rechte
und Interessen der einheimischen Bevölkerung.
Die Gründung des jüdischen Staates ging von Anfang an mit der
Vertreibung des palästinensischen Volkes einher, die teilweise mit
Gewalt und ökonomischem oder anderweitigem Druck betrieben wurde,
teilweise "freiwillig" erfolgte.
Der in Israel verbliebene Teil der arabischen Bevölkerung sah sich
trotz der ihm gewährten Bürgerrechte wirtschaftlich und gesellschaftlich
auf den Status von Bürgern zweiter Klasse reduziert.
Aus nationalen, rassischen und religiösen Unterschieden wurden Klassenunterschiede:
so grub sich der alte Widerspruch in die neue Gesellschaft ein und wurde
noch verschärft durch die Verschmelzung innerer und äußerer
Konflikte.
In all diesen Aspekten unterscheidet sich die Gründung des jüdischen
Staates nicht wesentlich von den Ursprüngen praktisch aller Staaten
in der Geschichte: der Gründung durch Eroberung, Besetzung und Diskriminierung.
Wenn man diese nun etablierte Tatsache und das grundlegende historische
Ziel akzeptiert, das sich der Staat Israel gesetzt hat, dann stellt sich
die Frage: - ob der Staat Israel in seiner jetzigen Form und bei seiner
jetzigen Politik sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen vermag und gleichzeitig
in der Lage sein kann, als eine fortschrittliche Gesellschaft auf normale
Weise friedlich mit seinen Nachbarn zusammenzuleben.
Ich werde diese Frage in Bezug auf Israels Grenzen von 1948 erörtern.
Jede Annexion in gleich welcher Form legt meiner Meinung nach schon eine
negative Antwort nahe.
Sie würde bedeuten, dass sich Israel nur als militärische Festung
in einer riesigen feindlichen Umwelt behaupten könnte und dass seine
materielle und geistige Kultur auf wachsende militärische Erfordernisse
eingestellt werden müsste.
Der überaus gefährliche, unsichere und vorläufige Charakter
dieser Lösung ist offensichtlich.
Eine Supermacht (oder ihr Satellitenstaat) kann unter solchen Bedingungen
durchaus lange bestehen, aber die Kleinheit des Landes und die Rüstungspolitik
der Supermächte schließen diese Möglichkeit für Israel
aus.
Unter den heutigen Umständen wäre die erste Vorbedingung für
eine Lösung ein Friedensvertrag mit Ägypten, der die Anerkennung
des Staates Israel, den freien Zugang zum Suezkanal und zu den Meerengen
sowie die Regelung des Flüchtlingsproblems umfasst. []
Die stärkere Macht kann sich die größeren Zugeständnisse
leisten - und Israel ist immer noch die stärkere Macht.
Der Status von Jerusalem könnte sich als das größte Hindernis
für einen Friedensvertrag erweisen. Tief sitzende religiöse
Gefühle, von den Führern immer wieder angeheizt, machen Jerusalem
als Hauptstadt eines jüdischen Staates für die Araber (und für
die Christen?) unannehmbar. Eine vereinigte Stadt (beide Teile) unter
internationaler Aufsicht und Verwaltung könnte eine Alternative sein.
[Ägypten] verlangt darüber hinaus eine "befriedigende
Regelung des Flüchtlingsproblems im Einklang mit den UN-Resolutionen".
Der Wortlaut dieser Resolutionen [] lässt Raum für Interpretationen
und ist insofern selbst Gegenstand von Verhandlungen. Ich will nur zwei
Möglichkeiten (oder deren Kombination) skizzieren, die in Gesprächen
mit jüdischen und arabischen Persönlichkeiten vorgeschlagen
wurden:
1. Wiederansiedlung der vertriebenen Palästinenser, die nach Israel
zurückkehren wollen. Diese Möglichkeit wird von vornherein in
dem Maße eingeschränkt, wie arabisches Land zu jüdischem
Land und arabischer Besitz zu jüdischem Besitz geworden ist. Auch
das ist ein historisches Faktum, das man nicht einfach dadurch ungeschehen
macht, dass ein Unrecht durch neues Unrecht korrigiert wird. Es ließe
sich aber abmildern, indem man diese Palästinenser auf noch verfügbarem
Land ansiedelt und/oder ihnen angemessene Vergünstigungen und Entschädigungen
gewährt.
Diese Lösung wird offiziell mit dem (an sich richtigen) Argument
abgelehnt, dass eine solche Lösung die jüdische Mehrheit schnell
zur Minderheit machen würde und damit den Zweck des jüdischen
Staates zunichte macht. Ich glaube allerdings, dass sich gerade diejenige
Politik selbst zunichte macht, die auf eine dauerhafte Mehrheit abzielt.
Die jüdische Bevölkerung muss eine Minderheit in der riesigen
Welt der arabischen Nationen bleiben. Sie kann sich nicht definitiv davon
absondern, ohne zu einer Ghettoexistenz auf höherem Niveau zurückzukehren.
Gewiss, Israel könnte eine jüdische Mehrheit aufrechterhalten,
indem es eine aggressive Einwanderungspolitik betreibt, die wiederum beständig
den arabischen Nationalismus stärkt.
Als fortschrittlicher Staat kann es nicht existieren, wenn es in seinen
Nachbarn weiter "den Feind" sieht, den "Erbfeind".
Und dauerhafte Sicherheit für das jüdische Volk liegt nicht
in einer sich abschließenden, isolierten und von Angst getriebenen
Mehrheit, sondern im Zusammenleben von Juden und Arabern als Bürgern
mit gleichen Rechten und Freiheiten. Ein solches Zusammenleben kann nur
das Ergebnis eines langen Prozesses von Versuchen und Irrtümern sein.
Aber die Voraussetzungen für die ersten Schritte sind jetzt gegeben.
Es gibt ein palästinensisches Volk, das seit Jahrhunderten auf dem
Territorium gelebt hat, das heute zum Teil von Israel besetzt wird. Und
die Mehrheit dieses Volkes lebt heute unter israelischer Verwaltung. Diese
Bedingungen machen Israel zu einer Besatzungsmacht (sogar in Israel selbst)
und die palästinensische Befreiungsbewegung zu einer nationalen Befreiungsbewegung
- mag die Besatzungsmacht auch noch so liberal sein.
2. Die nationalen Bestrebungen des palästinensischen Volkes könnten
durch die Gründung eines Palästinenserstaates neben Israel befriedigt
werden. Ob dieser Staat unabhängig sein soll oder ob er eine Föderation
mit Israel oder mit Jordanien eingeht, bliebe der Selbstbestimmung des
palästinensischen Volkes in einem Referendum unter Aufsicht der Vereinten
Nationen überlassen.
Die beste Lösung wäre das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern,
Juden und Arabern als gleichberechtigten Bürgern eines sozialistischen
nahöstlichen Staatenbundes. Das ist noch Utopie. Die oben erörterten
Möglichkeiten sind Zwischenlösungen, die sich hier und jetzt
anbieten - ihre strikte Ablehnung könnte nicht wieder gutzumachenden
Schaden anrichten.
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