DER SPIEGEL 34/2003
- 18. August 2003 URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,261544,00.html (to 1969 Herbert Marcuse interview about Adorno) Denker Was w�re Gl�ck, das sich nicht m��e an der unme�baren Trauer dessen was ist? Denn verst�rt ist der Weltlauf.
Als Happening war es gedacht, als ironisch-freche Aktion, die Theodor W. Adorno klar machen sollte, dass Umsturz nicht im Kopf allein stattfinden d�rfe, dass seine Bannfl�che �ber "Kulturindustrie" und "Verblendungszusammenhang" Folgen haben m�ssten. "Wer nur den lieben Adorno l��t walten, der wird den Kapitalismus sein Leben lang behalten", stand an der Tafel. Jetzt, zu seinem 100. Geburtstag am 11. September, ist die Geschichte fast nur noch eine Kuriosit�t. Entr�ckt scheint sie wie die Jahre, in denen jeder aufrechte Linksintellektuelle jederzeit seine eiserne Ration von Adorno-Worten herunterrasseln konnte: dass "das Ganze" nur "das Unwahre" sein k�nne, dass "kein richtiges Leben im falschen" denkbar oder dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben "barbarisch" sei. Lang ist das her. Darum will Adornos Vaterstadt Frankfurt am Main, wo auch die Gralsh�ter des Theodor W. Adorno Archivs residieren, dem Verblassen seines Ruhms nun mit aller Macht Einhalt gebieten. Ein Festprogramm, wie es sonst nur der ber�hmteste Sohn der Stadt, Goethe, in Gang br�chte, erreicht bald die hei�e Phase. Symposien, Podiumsgespr�che, Lesungen, Ausstellungen, die obligate Gro�-Konferenz, eine Preisverleihung samt Konzert, ein "Adorno-Lerntag" und Auff�hrungen seiner Musikwerke: Wer dem Trubel tats�chlich entkommt, wird fr�her oder sp�ter am neu gestalteten Theodor-W.-Adorno-Platz im Westend landen und so vom Lokalhelden mit Weltniveau erfahren. Auf dem Buchmarkt gilt der 1969 gestorbene Denker inzwischen als Klassiker. Von einem Neudruck der "Minima Moralia", einsch�chternd raffinierten "Reflexionen aus dem besch�digten Leben", wurde sein Hausverlag Suhrkamp in zwei Jahren �ber 15 000 Exemplare los. Selbst auf CD-Rom ist Adorno bald durchklickbar. Fehlte zur Heiligenlegende eigentlich nur noch die Biografie. Doch wer traute es sich zu, einen Universalisten zu schildern, der �ber Zw�lftonmusik wie Hegel, den "Autorit�ren Charakter" wie seine erste Flugreise, ja noch �ber das Wort "Uromi" brillant-vertrackte Essays schrieb? Erst der Sog erw�nschter Verehrung hat den Bann nun gebrochen: Gleich drei Lebensgeschichten und etliches andere erscheint dieser Tage. Verbl�ffend genug: Die B�cher erg�nzen sich nahezu perfekt. Was der �ber tausend Seiten starken offizi�sen Lebenschronik des Soziologen Stefan M�ller-Doohm an Verve und Weitblick abgeht, leisten die anderen: "FAZ"-Redakteur Lorenz J�ger, der ein zeitgeschichtlich umrahmtes Portr�t geliefert hat, oder der Adorno-Sch�ler Detlev Claussen, dessen feinf�hliger Buchessay ausdr�cklich "ein letztes Genie" w�rdigt. Aber gerade das Licht von vielen Seiten offenbart nun auch Br�che und Widerspr�che. Beim Namen f�ngt es an. Gern lie� der Sohn eines j�dischen Weinh�ndlers in sp�teren Jahren durchblicken, er stamme aus edler Genueser Patriziersippe. Tats�chlich aber hatte sich erst sein Gro�vater m�tterlicherseits, ein korsischer Offizier a. D. und Fechtlehrer namens Jean Fran�ois Calvelli, der aus Liebe in Frankfurt geblieben war, nach eigenem Gutd�nken ein klangvolles "Adorno della Piana" zugelegt. Bei der US-Einb�rgerung 1943 lie� sich Theodor Ludwig Wiesengrund, von Freunden und Familie Teddie gerufen, den Beinamen verbriefen; sp�ter f�gte er ein versch�mtes W. ein. Dahinter steckte keine T�cke, nur sein stets unb�ndiger Wille, so viel wie m�glich aus sich zu machen. Schon der verh�tschelte Frankfurter Junge, den Mutter und Tante t�glich zur Schule begleiteten, dichtete und komponierte; vom Sportunterricht befreit und allj�hrlich mit einem Ferienaufenthalt im idyllischen Odenwald-Nest Amorbach belohnt, war Teddie der Paradefall eines weltfremden, manchmal geh�nselten Primus. Alles schien dem S�ngerinnen-Sohn aus beg�tertem Haus zuzufliegen. "Wie ein verkleinerter Prinzensohn" wirkte er auf seinen ersten Mentor, den 14 Jahre �lteren Siegfried Kracauer, der bei der einflussreichen "Frankfurter Zeitung" Redakteur war. "An den Stuhl seiner Mutter gelehnt, beantwortete er die ihm gestellten Fragen in einem matten Ton, der den gro�en traurigen Augen widersprach, die unter den langen Wimpern hervorblickten." Bald sah Kracauer, wie der Gymnasiast seine scharfsichtige Sozialkritik bis in Details �bernahm - �hnlich ging Jung-Wiesengrund wenig sp�ter mit seinem Philosophie-Doktorvater um und dann, 1925 in Wien, mit Alban Berg, dem Lieblingssch�ler des strengen Arnold Sch�nberg. Selbst die raunend-marxistischen Ideen des Berliners Walter Benjamin, der wie Teddie selbst mit einem Habilitationsversuch in Frankfurt gescheitert war, sog er auf - Lernbegier und cham�leonhafte Anlehnungslust schienen sich zu decken. Scheu war er nicht: Als Konzertkritiker rief er Sch�nbergs St�cke zur einzigen "Wahrheit" aus. Leider nur fand Sch�nberg den jungen Komponier-Streber von Bergs Gnaden widerw�rtig. "Er soll einen wahren Wiesengrund-Komplex haben", beklagte sich Teddie bei Kracauer. Aber es musste ja nicht die Musik sein. In Frankfurt gelang es Wiesengrund nach immerhin dreieinhalb Jahren doch noch, Philosophie-Dozent zu werden: mit einer Studie �ber den d�nischen Erzgr�bler S�ren Kierkegaard, in der Walter Benjamin manchen seiner Einf�lle wiedererkannte. Allerdings mochte Benjamin noch aus anderem Grund eifers�chtig sein: Er redete die Berliner Fabrikantentochter Gretel Karplus, eine gertenschlanke, blitzgescheite Chemikerin, zwar traulich als "Felizitas" an - mit Teddie aber war sie verlobt. Von solchen Privatheiten ahnten Wiesengrunds erste Sch�ler nichts. "Alles, was er sagte, war druckreif, jeder Satz klang wie: So ist es, und nicht anders", erinnerte sich ein damaliger Student. Um diese Zeit wurde die immer kahler werdende Gestalt noch auf Kost�mfesten als Napoleon gesichtet. Doch nach drei Semestern verbot die neue nationalsozia- listische F�hrung dem jungen Privatdozenten das Lehren. Als sogar seine Wohnung durchsucht wurde, ergaben eilige Recherchen nur eine Notl�sung: England. Mit viel Gl�ck - und der Hilfe eines ausgewanderten Wiesengrund-Onkels - fand er Zuflucht im renommierten Oxforder Merton College: offiziell als "advanced student", de facto eher als ein geduldeter Au�enseiter. Zwar versuchte er, sein miserables Englisch aufzubessern, indem er Krimis im Akkord las, doch Gespr�chspartner fehlten. In einem "Angsttraum" sei er gelandet, klagte Teddie und nannte sein College-Dasein gar "das verl�ngerte dritte Reich". Nat�rlich war der Brief-Seufzer kalkuliert: Er sollte bei einem alten Bekannten, dem Philosophen Max Horkheimer, Mitgef�hl wecken. Horkheimer war seit 1930 Chef des privaten, finanzstarken marxistischen "Instituts f�r Sozialforschung", das er geschickt aus dem nun braunen Frankfurt �ber Genf und Paris nach New York verlegt hatte. Er hatte den brillanten Kopf l�ngst verpflichten wollen. Doch zuvor sollte Wiesengrund sich bew�hren. Der tat das beinahe �bereifrig - mit Arbeiten f�r die institutseigene "Zeitschrift f�r Sozialforschung", etwa �ber Jazzmusik, aber auch als Kontaktmann zu schwierigen Mitarbeitern wie Benjamin oder Kracauer. Selbst als Horkheimer und sein Mitstreiter Fritz Pollock ihn mit Text-N�rgeleien auf die Probe stellten, wurde der nur beflissener. Und es half: Dank Horkheimer fand sich eine Forschungsstelle in den USA. Anfang 1938 konnten Gretel und Teddie, frisch verheiratet, nach New York ziehen. Alles Weitere z�hlt l�ngst zum Gr�ndungsmythos der Frankfurter Schule: Wiesengrunds Eintritt ins "Institut f�r Sozialforschung", 1941 der Umzug nach Kalifornien, das Leben unter Hollywoods Emigranten - ob Greta Garbo, Bert Brecht oder Fritz Lang -, die "Philosophie der neuen Musik", das Fragebogen-Projekt zur Durchleuchtung der "autorit�ren Pers�nlichkeit" und die Arbeit mit Horkheimer am gemeinsamen Hauptwerk "Dialektik der Aufkl�rung", wo es um "das Destruktive des Fortschritts" ging. Doch neben der offiziellen Geschichte zeigen die Dokumente nun auch den privaten Theodor Wiesengrund-Adorno:
Aber auch weniger edle Eskapaden leistete er sich oft. Bordellbesuche sind belegt, und in einer New Yorker Tagebuchnotiz von 1949, jetzt im neuen Bildband erstmals gedruckt, hei�t es �ber eine bislang unbekannte Dame: Das Weekend mit Carol. Wir a�en im Rumpelmeier, ich setzte ihr das Programm auseinander, das wir streng innehielten; Genie�en der Vorlust ... Nachmittag der �u�ersten Exzesse, in v�lliger Helle und Klarheit. Echte Masochistin: zweimal ihr Orgasmus nur beim freilich erbarmungslosen Schlagen ... Das Kunstst�ck beim Lieben von hinten einen ganz einzuschlie�en ... Morgens nackte Reprise. Menschlich und geistig gereift. Solche Kehrseiten lassen die Biografen nahezu unerw�hnt. Gretel, die fast alles wusste, hielt still; auch sp�ter, wenn sich Adorno in Frankfurt einer Eva hier oder einer Arlette dort n�herte. An der Fu�g�ngerampel konnte Professor Adorno ungestraft seine Gattin mit dem Spazierstock fortschubsen, um freie Sicht auf eine attraktive junge Dame zu gewinnen. Wichtiger als jeder Flirt aber war ihm in Kalifornien sein Kontakt zum Star der Exil-Literaten, Thomas Mann. F�r den Komponistenroman "Doktor Faustus" lieferte Adorno Material und sogar Beschreibungen nie erklungener St�cke, die Mann kaum retuschiert �bernahm. Erst als Adorno vor Bekannten mit seiner Zuarbeit prahlte, r�ckte Thomas Mann ab vom "Wirklichen Geheimen Rat", der als penetrant dozierender Musiklehrer Wendell Kretzschmar im Buch auftrat. Und er nahm subtile Rache, indem er f�nf Noten bei Beethoven die Worte "gr�ner Wiesengrund" unterlegte. Als 1947 "Doktor Faustus" und die "Dialektik der Aufkl�rung" erschienen, gab es schon wieder Verbindung nach Deutschland. Auch wenn es nun das Land der M�rder war, ohne seine Muttersprache f�hlte Adorno sich verloren. Doch erst drei Jahre sp�ter gelang es Horkheimer, das Institut wieder in Frankfurt anzusiedeln; Professor wurde Adorno gar erst 1957. In dieser Zeit erschrieb sich der Rundum-Interpret, der Paradoxe liebte ("Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos") und nicht m�de wurde, die moderne Welt kulturkritisch als Kapital-Jammertal zu schildern, einen festen Platz im intellektuellen Nachkriegsdeutschland. Nicht alle fanden das richtig. Adorno sei "einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne", giftete die j�dische Heidegger-Sch�lerin Hannah Arendt im Brief an den Philosophen Karl Jaspers. Auch Jaspers vermutete "Schwindel" hinter Adornos "unermesslich viel wissenden, alles hin- und herwendenden Schriften". Selbst Frau Horkheimer hatte einmal erkl�rt: Teddie sei "der ungeheuerlichste Narzi�, den die alte und neue Welt aufzuweisen hat" - ein Satz, den Biograf M�ller-Doohm lieber in die Anmerkungen abschiebt. Nun aber war das Publikum da, und es schien zu rufen. Musik-Analysen, von Bach �ber Wagner bis Alban Berg, lie�en aufhorchen; Soziologen beriefen sich auf die (heute im Fach kaum noch anerkannten) Fragebogen-Methoden des Instituts. Kafka oder Geschenkartikel, Beckett oder eine "Theorie der Halbbildung" - kein Kulturthema schien Adorno fremd, und immer zeigte sich hinter seiner manierierten Ausdrucksweise ein versonnener Denk-Spieler. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwerfiel, aufs Gespr�ch sich einlassen, so sollten sie so reden, da� sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit �berf�hrt. Nach diesem absichtsvoll verqueren Grundsatz stritt er f�r das, was Horkheimer "Kritische Theorie" genannt hatte: eingreifende, ver�ndernde Weltbetrachtung, aufgekl�rt, skeptisch, ohne Utopie und im Zweifel links-materialistisch - kurz: "das je fortgeschrittenste Bewu�tsein" zur Kultur- und Geisteslage. Aber nach welchem Ma�stab war es zu finden? Die Antwort darauf verweigerte Adorno hartn�ckig. Von �berall her sahen die Frankfurter sich inzwischen beargw�hnt: Spottete hier der moskautreue Literatur-Philosoph Georg Luk�cs �ber das bequeme "Grand Hotel Abgrund", so unkten dort Konservative, das Institut mache Umst�rzlerei hoff�hig. Selbst Adornos geistiger Ziehvater Siegfried Kracauer grollte: "Er schreibt ja auch so viel, und manches ... ist auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalit�t, die es sich gutgehen l��t." Zumindest das Letzte stimmte so nicht: Arbeitend bis zur Ersch�pfung, obendrein von Schlaflosigkeit geplagt, durchlitt Adorno alle Qualen eines Medienstars der ersten Stunde. Und immer h�ufiger waren Widerspr�che zu erkennen:
In seiner "Philosophie des Nicht-Identischen", die er unter dem Buchtitel "Negative Dialektik" b�ndelte, beabsichtigte er, "�ber den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen". Unbeirrbar zog er gegen konservative Genie�erei zu Felde. "Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen", sagte er. Oder: "Nur das �u�erste hat die Chance, dem Brei der etablierten Meinung zu entgehen. Das steht als Maxime hinter jedem Satz, den ich schreibe." "Adorno sagt zu jeder seiner Analysen auch das Gegenteil", notierte ausgerechnet sein Kompagnon Max Horkheimer. "Aber trotz dieser auf die Spitze getriebenen Dialektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denn die Wahrheit l��t sich nicht sagen ... Es kommt aber darauf an, das, was man an Wahrheit hat, irgendwie zu realisieren." Das forderten Mitte der sechziger Jahre pl�tzlich auch Adornos Studenten. Vergeblich suchte der Solist am Katheder, stets r�hrend um seine Sch�ler besorgt, den revolutionslustigen jungen Leuten klar zu machen, dass er ihnen Kant und Hegel erkl�ren, aber kein Stichwortgeber f�r Gewalt sein mochte. Er habe "niemals ein Modell ... zu irgendwelchen Aktionen gegeben", beteuerte er in einem SPIEGEL-Gespr�ch vom Mai 1969, als l�ngst Molotow-Cocktails geflogen waren, das Institut polizeilich ger�umt worden war und auch die bizarre Busen-Attacke stattgefunden hatte. Dabei war ihm schon 1939 eingefallen: "Eigentlich kann man nichts mehr sagen. Die Tat ist die einzige Form, die der Theorie noch bleibt." Nun riefen seine Sch�ler zur Tat, ohne das "Quentchen Wahn" (Adorno) in ihren K�pfen zu bemerken. Wie stets am Semesterende ausgelaugt, zus�tzlich entnervt von endlosen, fruchtlosen Diskussionen mit den Studenten, brach Adorno Ende Juli 1969 zum �blichen Berg-Urlaub auf. In Visp nahe Zermatt ereilte den 65-j�hrigen, von einer hastigen Gipfeltour geschw�chten Denker am 6. August 1969 ein t�dlicher Herzinfarkt. "Die Nachricht von Adornos Tod wurde noch am selben Tag von den wichtigsten Medien verbreitet", meldet Biograf M�ller-Doohm mit Thomas-Mann-Pathos, dann aber macht er bald ein Ende. Z�gig schlie�en auch J�ger und Claussen ihr Panorama in alpiner Gipfel-Melancholie. Ein Res�mee �berlassen sie anderen. Vielleicht aber hat der Mann, der im selben Jahr zur Welt kam wie der Teddyb�r, selbst schon am ehrlichsten seine Ziele benannt. Er, der Allround-Intellektuelle, dessen Denk- und Schreibgestus viele Jahre lang jeder Geisteswissenschaftler "wie die Masern" �berstehen musste (so der Philosoph Odo Marquard), dieser zum Pr�zeptor gewordene Mustersch�ler und Sprachkomponist, der alle Fachwissenschaftler �bertrumpfen wollte, war schon in seinem Abitur-Aufsatz ganz sicher gewesen: "Die Welt aber im Ich zu gestalten, ist der Sinn des Lebens." JOHANNES SALTZWEDEL |