Frankfurter Rundschau
Articles about the burial of Herbert's Ashes, July 2003

prepared for the marcuse.org/herbert website by Harold Marcuse, July 29, 2003


July 15, 2003 [http://www.fr-aktuell.de/]

ZWISCHENRUF
Ach, Herbert

Von Rüdiger Zill, Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam

Alles redet von Adorno. Das kritische Kap des 100. Geburtstags wird gerade von der Piratenflotte der öffentlich-rechtlichen Gratulanten, den tanzenden Jollen der Schüler und den behäbigen Koggen der historistischen Schatzsucher umsegelt; die Beute ist reich: Kongresse so weit das Auge reicht, und bei Suhrkamp sind nicht weniger als 3 300 Seiten Neuigkeiten von und über Adorno angekündigt. Teddy hat das Rennen gemacht, was nicht von Anfang an klar war, wenn man etwa an '68 denkt: Horkheimer war längst in der Schweiz, Adorno floh vor den nackten Busen. Nur einem applaudierten die revolutionären Massen frenetisch: Herbert Marcuse, im Audimax der FU, dem philosophischen Seitenstück zu Woodstock.

Tempi passati: Während von Horkheimer und selbst Fromm noch gediegene Gesamtausgaben, sogar im Taschenbuch erhältlich sind, hat Marcuse die Jahrtausendhürde nicht genommen: Zwar hat der Suhrkamp Verlag auch ihm einst eine große Ausgabe seiner Schriften zugedacht. Aber bevor sie ins Taschenbuch hinüberwandern konnte (was sogar Leo Löwenthal geschafft hat), war der Autor auch rezeptionsgeschichtlich verstorben. Heute ist von Marcuse fast nichts mehr lieferbar, sieht man ab von einigen Lüneburger Partisanen, die Verstreutes aus dem Nachlass edieren. Tippt man bei amazon "Marcuse Herbert" ein, wird bloß noch Kultur und Gesellschaft als lieferbar gemeldet - und davon auch nur der erste Band. Keine Triebstruktur und Gesellschaft, keine Konterrevolution und Revolte, und auch die Permanenz der Kunst scheint so permanent nicht gewesen zu sein.

Zufall? Zweifelhafte Qualität? Zwang der Ökonomie? Hat der Engel der Geschichte in seinem berühmten Blindflug den kleinen Herbert einfach umgerempelt? Weit gefehlt! Hier bietet sich vielmehr eine föderalistische Verschwörungstheorie an: Adorno, Fromm und Löwenthal waren Frankfurter! Und Horkheimer ist es wenigstens geworden! Aber nicht Marcuse - nicht dieser Berliner Rotzlöffel. Sagen wir es endlich offen: Es heißt nicht umsonst Frankfurter Schule. Was hat Marcuse da zu suchen? Da könnte ja jeder kommen! Keine repressive Toleranz mehr mit diesen imperialistischen Hauptstädtern. Wird deren Kultur nicht schon genug subventioniert?

Doch jetzt schlagen die Berliner zurück: Zumindest die sterblichen Überreste des einst verstoßenen Sohnes werden zurückgeholt auf den intellektuellsten Friedhof der Stadt, den Dorotheenstädtischen, vis-à-vis Fichte, Hegel und Bert Brecht - begleitet wenigstens von einem feierlichen Gedenkkolloquium. Die benachbarte Buchhandlung wird dennoch keinen Umsatz machen: Wer nicht lesen kann, muss loben.


July 19, 2003 [back to top]

Remigration
Herbert Marcuses Urne ist nun in Berlin

Von Rüdiger Zill

Juli 1967, ein heißer Sommertag im Audimax der Freien Universität Berlin. Sechs Wochen zuvor war Benno Ohnesorg erschossen worden, für die aufbegehrenden Studenten ein traumatischer Einschnitt, der aus Protesten einzelner Gruppen, die von internen Hochschulproblemen ihren Ausgang nahmen, eine breite politische Bewegung machte. In jenen Tagen kam Herbert Marcuse als Repräsentant der amerikanischen Protestbewegung nach Berlin und diskutierte mit den rebellierenden Studenten Fragen des revolutionären Engagements. Der Saal war überfüllt.

Juli 2003, ein heißer Sommertag im Audimax der Freien Universität Berlin. Marcuse ist zurückgekehrt. Überlebensgroß sieht sein Bild von der Leinwand über der Bühne herab und beschirmt die Redner eines Gedenkkolloquiums "Zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses". Zwei Tage vor seinem 105. Geburtstag erinnert man sich an seinen Einfluss auf die 68er und fragt nach der Zukunft seiner Theorie. Die Zahl der Zuhörer ist mit etwa 250 Teilnehmern deutlich überschaubarer. Die Zeiten haben sich geändert.

Marcuse ist aber nicht nur in effigie zurückgekehrt. Einige Tage zuvor war seine Asche auf dem Flughafen Tegel angekommen, um am heutigen Freitag auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unweit von den Gräbern Fichtes, Hegels und Brechts beigesetzt zu werden. Harold Marcuse, Herberts Enkel und Professor für deutsche Geschichte in Santa Barbara, Kalifornien, eröffnete das Kolloquium mit der Geschichte der Asche. Marcuse, der 1979 bei einem Besuch in Starnberg gestorben war, sollte nach dem Willen seiner damaligen Frau nicht in Deutschland beerdigt werden.

Seine Urne wurde stattdessen in die USA überführt, dort allerdings nicht beigesetzt. Sie blieb in der Obhut eines Beerdigungsunternehmers. Jahre später spürte Marcuses Sohn Peter sie wieder auf und überließ die Entscheidung, wo sie beerdigt werden solle, dem Familienrat. Doch als die Frage aufkam, ob Deutschland dafür in Frage käme, regte sich Widerspruch: Dort gebe es schon genug jüdische Asche, lieber solle man Herberts im Pazifik verstreuen. Harold plädierte jedoch dafür, Berlin in Betracht zu ziehen: Wenn Herbert Marcuses Heimatstadt Interesse zeigen würde, solle er dort seine Ruhestätte finden. Der Berliner Senat zeigte dieses Interesse, Marcuse kehrte zurück - auch eine Art Remigration, wenngleich eine sehr verspätete.

Das Gedenkkolloquium sollte allerdings kein nostalgisches Ehemaligentreffen werden, sondern die Frage nach Marcuses Aktualität Ernst nehmen. Keine leichte Aufgabe bei einem Autor, der immer auch aus der politischen Situation heraus schrieb. Bei solchen Texten ist die theoretische Halbwertszeit häufig kurz. Aber Marcuse versuchte das Kunststück, Gegenwartsdiagnosen in allgemein philosophische Überlegungen zu fundieren. So beantworteten einige Teilnehmer des Kolloquiums die Frage nach seiner Aktualität, indem sie den theoretischen Kontext seines Denkens ausloteten: Axel Honneth, Direktor des Instituts für Sozialforschung, unterstrich, warum bei allen Unterschieden im Detail, Marcuse mit Horkheimer und Adorno in seinen Grundvoraussetzungen so stark übereinstimmte, dass mit Recht von einer Schule gesprochen werden könne. Der Kritischen Theorie insgesamt sei es nicht um eine abstrakte Theorie der Ungerechtigkeit gegangen, sondern um eine Pathologie des Sozialen. Ihr normativer Hintergrund bestand in der Vorstellung eines vernünftigen Allgemeinen, das allerdings unter kapitalistischen Verhältnissen nicht zur Verwirklichung kommen könne. Dabei sei Marcuse ohne Zweifel derjenige gewesen, der am meisten Zutrauen in die politische Durchsetzbarkeit dieses Allgemeinen hatte.

Daher rührte auch sein politisches Engagement, dessen Kontexte eine andere Gruppe der Teilnehmer diskutierte. Hartmut Häußermann und Wolfgang Lefèvre, in den sechziger Jahren Asta-Vorsitzende der FU, untersuchten die Bedeutung Marcuses für die deutschen Studenten im Jahr 1967. Er sei nicht der Guru einer Gefolgschaft gewesen, sondern der Stichwortgeber für Diskussionen, in denen um das Verständnis der eigenen politischen Rolle gerungen wurde.

An Marcuses Rolle für die amerikanischen Studenten erinnerte seine wahrscheinlich bekannteste Studentin, die Bürgerrechtlerin Angela Davis. Sie beschwor Marcuses Charisma, die Faszination, die von seiner Person ausging, die Kraft, mit dem er jeden Defätismus bekämpfte. Die Frage nach Marcuses Aktualität versuchte Davis zu konkretisieren, indem sie sie in einzelne Fragen umformulierte: Was hätte Marcuse zu den Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologien gesagt, was zu den Folgen des 11. September, zu Bushs Cowboy-Diplomatie, aber gleichzeitig auch zu der außerordentlichen Mobilisierung der Anti-Kriegsbewegung? Die Antworten ließ sie offen.

Bei einigen Fragen wäre es sicher leicht, die Antworten aus Marcuses Schriften zu extrapolieren. In vielen Fällen wirken Marcuses Sätze wie auf die aktuelle, wieder stärker politisierte Diskussion gemünzt, etwa im Fall der Globalisierungskritik. Bei anderen Fragen aber wäre es schwerer, Rat bei Marcuse zu holen: Nicht nur der 9.11., auch der 11.9. haben die Vorzeichen so verändert, dass Marcuses Diagnosen nicht ohne weiteres übertragbar sind. Unzweifelhaft ist Marcuse nicht in dem Sinne aktuell, dass sein Name und seine Denkfiguren in gegenwärtigen Diskussionen präsent wären. Ob er allerdings in dem Sinne aktuell ist, dass seine Verbindung von philosophischer Reflexion und politischer Diagnose uns heute noch etwas zu sagen hat, ist auch nach diesem Kolloquium eine offene Frage.


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