prepared for the marcuse.org/herbert website by Harold Marcuse, July 29, 2003
taz Nr. 7104 vom 15.7.2003, Seite 6, 12 Zeilen (Agentur)
HERBERT MARCUSE: Beisetzung in Berlin
Der Philosoph Herbert Marcuse findet 24 Jahre nach seinem Tod seine letzte Ruhe an seinem Geburtsort Berlin. Am Freitag wird seine Urne auf Wunsch der Familie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben den Gräbern der Philosophen Fichte und Hegel beigesetzt. (dpa)
taz Nr. 7107 vom 18.7.2003, Seite 5, 165 Zeilen (TAZ-Bericht), THOMAS KNAUF [back to top]
Großvaters Asche
Wieder kehrt ein Berliner heim. Unweit seines Lieblingsphilosophen Hegel findet
Herbert Marcuse seine letzte Ruhe - soll aber keine Ruhe geben
Die Urne mit Marcuses Asche kam im Rucksack an. Sein Sohn Peter brachte sie am vergangenen Montag mit der Maschine aus New York mit und übergab sie gleich am Flughafen der Bestattungsfirma Grieneisen. In einem schwarzen Cadillac Baujahr 1957 wurde der Plastikbehälter zum Friedhof überführt. Der Leichenwagen ist legendär: Er beherbergte schon die sterblichen Überreste von Marlene Dietrich und zahllosen Berliner Prominenten. Auch für den Cadillac war es am Montag die letzte Fahrt: Er beendet nicht auf dem Autofriedhof, sondern im Verkehrsmuseum sein bewegtes Dasein.
Heute um 10.30 Uhr wird Herbert Marcuse, der deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der kompromisslose Denker und Marxist, der notorische Zigarrenraucher und Frauenliebling, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Einen Tag vor seinem 105. Geburtstag erhält der hier als Kind eines jüdischen Textilfabrikanten geborene Heidegger-Schüler und Mitbegründer der Frankfurter Schule ein Ehrengrab unweit der Ruhestätte seines Lieblingsphilosophen Hegel.
Rolf-Peter Lange, Firmensprecher bei Grieneisen, ist stolz, den "Vater der antiautoritären Bewegung" eigenhändig durch Berlin zu chauffieren. Er war 1967 Student an der Freien Universität Berlin, als Marcuse mit seinen Gastvorlesungen über "Repressive Toleranz" und "Triebstruktur und Gesellschaft" die 68er-Studentenbewegung inspirierte. Damals kein linker Revoluzzer, schwärmt Lange heute von der intellektuellen Radikalität und dem enormen Charisma Marcuses. "Seine Asche gehört in brandenburgischen Boden", meint der Bestatter, "damit die preußische Idee der Toleranz und der Gedanke der grundsätzlichen Veränderbarkeit der Welt hier aufgehoben wird für spätere Generationen."
Vielleicht war es auch der fromme Wunsch, aus Marcuses Asche werde die linke Revolution wie Phönix wiederauferstehen und als Gespenst im postkommunistischen Europa umgehen, der Sohn Peter und Enkel Harold Marcuse spät auf die Idee brachte, den seit seinem Ableben 1979 nie bestatteten Toten in seiner Geburtsstadt zu begraben. Nach jüdischem Gesetz muss ein Verstorbener noch am Tag seines Todes unter die Erde gebracht werden.
Doch Herbert war nicht religiös und hielt sich seit seiner Flucht aus Deutschland fern von Israel in den USA auf, 1940 wurde er US-Bürger. Als Professor der University of San Diego wurde er 1967 die Vaterfigur der amerikanischen Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg und vom damaligen kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan zum Staatsfeind Nr. 2 nach dem Drogen-Guru Timothy Leary ernannt.
Ein Jahr später reiste Marcuse an die Brennpunkte der europäischen Jugendrevolte - Paris, Rom und Berlin - und wurde dort ebenfalls bejubelt. Danach beendete er seine Lehrtätigkeit, heiratete 1976 zum dritten Mal und publizierte fern revolutionärer Ortstermine über Karl Popper, Konterrevolution und Revolte, Kunst und Frauenbewegung und attackierte die osteuropäische marxistische Ästhetik.
Wegen seiner entschiedenen Ablehnung des sowjetischen Imperialismus galt er in der DDR als Renegat und wurde an den Unis von Karl-Marx-Stadt bis Rostock im philosophischen Giftschrank verwahrt. 1979 starb er unerwartet an einem Herzinfarkt nach der Teilnahme an den Frankfurter Römerberggesprächen bei einem Besuch am Starnberger See. Weil es dort kein Krematorium gab, wurde die Leiche in Salzburg eingeäschert und per Luftpost nach New Haven, Connecticut überführt. Dort verblieb die Urne auf unbestimmte Zeit in Wellers Funeral Home, einem Bestattungsinstitut, weil Marcuse sich über das Jenseitige seiner Existenz kaum den Kopf zerbrochen hatte. In seiner Wahlheimat USA wollte er nicht begraben sein, am liebsten war ihm der Gedanke, dass seine Asche bei Torrey Pines über dem Pazifik ausgestreut wird, wo er zwischen den Vorlesungen oft und gern am Strand spazieren ging.
Nachdem Ricky, so der Spitzname seiner seiner letzten Frau Erica, 1988 an Krebs gestorben war, realisierte Peter Marcuse als erstgeborener Sohn lange nicht, dass er jetzt für die Asche seines Vaters zuständig war. Als Professor für Stadtplanung an der New Yorker Columbia-Universität hatte er Wichtigeres zu tun, als dem Vater eine Nekropole zu bauen. Im Sommer 1989 reiste Peter Marcuse mit seiner Frau Frances in die DDR, um die dortige Stadtplanung zu studieren. Am 7. Oktober landete er stattdessen im Rummelsburger Knast, weil er an Demonstrationen gegen die Honecker-Regierung teilgenommen hatte. Die Eindrücke vom Herbst des Patriarchen schrieb Peter Marcuse in dem Buch "Missing Marx" nieder.
Einer seiner Studenten aus Antwerpen stellte im Jahre 2001 die bisher verdrängte Frage "Wo ist Herbert Marcuse begraben?" mit Nachdruck an die Hinterbliebenen. Der Enkel des Philosophen, Harold, Dozent für deutsche Geschichte in Santa Barbara, nahm sich des Problems an und plädierte trotz innerer Vorbehalte wegen Auschwitz und der Neonazis für Frankfurt am Main oder Berlin als finale Heimstätte für Großvater Herberts Asche. Durch die Freundschaft mit dem ostdeutschen Architekturtheorektiker Bruno Flierl und dessen Sohn Thomas kam die Sache dann ins Rollen.
Der Berliner Kultursenator organisierte ein Ehrengrab auf dem dramatisch unter Platzmangel leidenden Dortheenstädtischen Friedhof. So reicht es für den in Westberlin groß gewordenen und von den Nazis vertriebenen Philosophen nur für eine Grabstätte von knapp ein mal einem Meter neben dem sozialistischen Komödienstadler Rudi Strahl, dem Antibrechtianer Fritz Erpenbeck und der begabten Parteidichterin Hedda Zinner. Auch Honoratioren können sich derzeit in Berlin, wo mehr Leute sterben als geboren werden und mehr weg- als zuziehen, ihre Friedhofsnachbarn nicht mehr aussuchen.
taz Nr. 7107 vom 18.7.2003, Seite 5, 116 Zeilen (Interview), STEFAN REINECKE / CHRISTIAN SEMLER
"Die Leute hier passen zu meinem Vater" [back
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Sohn Peter Marcuse findet, dass sein Vater auf dem Dorotheenstädtischen
Friedhof in guter Nachbarschaft mit Hegel, Brecht und Eisler liegt
PETER MARCUSE, 74, ist Professor für Stadtplanung an der Columbia University in New York. Er betreut den Nachlass seines Vaters
Herr Marcuse, heute wird die Urne Ihres Vaters in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen
Friedhof beigesetzt. Warum?
Peter Marcuse: Ein Student hat mich vor Jahren gefragt, wo mein Vater eigentlich
begraben ist. Ich habe gesagt: Ich glaube, die Urne steht in einem Bestattungsinstitut
in New Haven. Die nächste Frage war, ob sie dort ewig stehen soll. So kamen
wir auf die Idee, etwas zu suchen, was besser zu meinen Vater passt.
Warum Berlin?
Weil dies der wichtigste Ort im Leben meines Vaters war. Wir hätten ihn
auch in San Diego oder in New York bestatten können. Aber auf dem Dorotheenstädtischen
Friedhof sind Leute beerdigt, die zu meinem Vater passen.
Hegel beispielsweise.
Ja, ja, vor allem aber die Emigranten Brecht und Hanns Eisler. Und er bekommt
ein Ehrengrab. Ich finde das in dem Land, aus dem er vertrieben wurde, nur gerecht.
Herbert Marcuse hat immer Wert darauf gelegt, dass sein Privatleben
vor öffentlichen Blicken geschützt bleibt.
Durchaus. Er fand, dass es niemanden etwas angeht, was er zu Hause tut oder
wer seine Freunde sind. Andererseits war er der Überzeugung, dass es zwischen
dem Persönlichen und dem Sozialen eine enge Beziehung gibt. Er hat immer
Brecht zitiert: "Ein Mensch, der eine gute Zigarre nicht zu schätzen weiß,
hat auch kein Recht, die Revolution zu machen." In diesem Sinne ist das Persönliche
auch politisch. Andererseits gibt es Journalisten, die gerne mit mir zu der
Schule gehen möchten, die Herbert in Berlin besuchte. Ich finde, das geht
ein bisschen zu weit ins Private.
Ihr Vater war nicht religiös. Aber hätte er Wert gelegt auf
ein jüdisches Begräbnis und auf ein Kaddisch?
Wir haben darüber geredet, ob es heute ein Kaddisch geben sollte. Aber
die Meinung in der Familie war: nein.
[We changed our minds the night before, when we remembered that we had said
Kaddish in Starnberg in 1979]
Und 1979, als er gestorben ist?
Nein, damals auch nicht. Erica, seine dritte Frau, hat sich für religiöse
Dinge interessiert. Ich erinnere mich, dass wir - da waren mein Sohn und seine
Frau, Jürgen Habermas und seine Frau und Tilman Spengler dabei - uns in
einem Wald bei Starnberg in einem Kreis versammelt haben, ihm zum Gedenken.
Aber ein Kaddisch? Nein.
Habermas hat kürzlich gesagt, dass der späte Marcuse, also
der Autor von "Der eindimensionale Mensch", in den Grundzügen Recht gehabt
hat. Teilen Sie diese Einschätzung? Ist das Buch auch 35 Jahre später
noch aktuell?
Ich meine ja. Wo ist der grundlegende Unterschied in der Gesellschaft zwischen
Mitte der 60er-Jahre und heute? Es gibt auch heute, gerade nach dem 11. September,
autoritäre Tendenzen in den USA. Denken Sie an die Einschränkung der
Bürgerrechte, die wir unter George W. Bush erlebt haben. Oder den Krieg
gegen den Irak. Oder die Steuerreform zugunsten der Reichen.
Bush ist das eine, die andere Frage ist, ob das Autoritäre aus
der gesellschaftlichen Struktur notwendig hervorgeht.
Ich denke, es gehört zusammen. So wie nach dem 11. September viel passiert
ist, was zuvor schon geplant war. Bush hat die Chance genutzt, die der 11. September,
das Bedürfnis nach mehr Sicherheit, geboten hat.
Sehen Sie denn aktuell Kräfte, die diesen Tendenzen entgegenwirken?
Ja, ich habe mich ja in der globalisierungskritischen Bewegung engagiert.
Und ich glaube auch, dass mein Vater, würde er heute politische Analysen
verfassen, sich nahe an den Ideen der Globalisierungskritik bewegen würde.
Ist der Backlash durch den 11. September eine fundamentale Verschiebung
- oder ein Phänomen, das wieder verschwinden wird? Werden wir also in fünf
Jahren, was etwa die Bürgerrechte angeht, wieder am 10. September 2001
ankommen?
Es gibt offenkundig einen Schwenk nach rechts. Einen Irakkrieg ohne UNO und
ohne plausible Begründung hätte es ohne den 11. September nicht gegeben.
Ich glaube aber nicht, dass eine neue Stufe des kapitalistischen Systems erreicht
ist. Bush hat Tendenzen, die es schon früher gab, intensiviert. Deshalb
kann man durchaus wieder am 10. September ankommen.
taz Nr. 7107 vom 18.7.2003, Seite 5, 21 Zeilen (TAZ-Bericht) [back to top]
vergriffen
Marcuse soll wieder leben
Eigentlich sollte ihm neben Janis Joplin und Ken Kesey ein Platz in der Ruhmeshalle der 68er sicher sein: Herbert Marcuse, Woodstocks Backstage-Philosoph. Doch Herbie ist vergessen, das zeigt schon ein Gang in einen Bücherladen. Während andere Mitglieder der Frankfurter Schule, wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm, in diversen Suhrkamp-Editionen, egal ob Hardcover oder Paperback, erhältlich sind, muss, wer Marcuses "Der eindimensionale Mensch" oder "Konterrevolution und Revolte" lesen will, in die Bibliothek oder ins Antiquariat. Die Bücher sind fast alle vergriffen. Nicht nur das soll sich mit der heutigen Beerdigung in Berlin ändern, hofft die Familie Marcuse.
[Note: It is not true that almost none Herbert's publications are in print in Germany. Three volumes of his papers (in German; 2 more in English) are in print, and dtv is preparing a new edition of Eindimensionaler Mensch.]
taz Nr. 7108 vom 19.7.2003, Seite 14, 177 Zeilen (TAZ-Bericht) [back to top]
Der
Traum von der großen Verweigerung
Aus Anlass des Ehrenbegräbnisses von Herbert Marcuse
erinnerte ein FU-Kolloquium unter dem Titel "Die Praxis folgt der Wahrheit"
an die Julitage 1967, als der Philosoph erstmals an die FU kam. Leider wurde
daraus vor allem ein Nostalgietrip, auf den sich auch die Bürgerrechtsikone
Angela Davis begab
von Jan Engelmann
Das Ende der Utopie, vielleicht sieht es so aus. Im Audimax der Freien Universität jubelt eine Jobannonce der Competence Call Center GmbH vergnügt vom schwarzen Brett herunter: "Freust du dich über flexible Arbeitszeiten, die dir eine Verbesserung deines Einkommens während des Studiums ermöglichen?" Gleich daneben wettert ein Infostand des Asta gegen die geplanten Langzeitstudiengebühren und prangert die "Entmündigung in der Lernfabrik" an. Wissenschaftssenator Thomas Flierl wird dies wohl kaum zur Kenntnis genommen haben. Denn er unterhält sich gerade angeregt mit sehr viel älteren Semestern und ist, Gott sei Dank, einmal nicht das Thema.
Genau an diesem Ort, vor 36 Jahren, fand der Traum von der "großen Verweigerung" noch viele Anhänger. Das Ende der entfremdeten Arbeit erschien möglich, ebenso die produktive Versöhnung von Eros und Politik. Im Juli 1967 war Herbert Marcuse aus San Diego zu einem viertägigen Teach-in an die FU gekommen, um "uns eine Welt zu zeigen, in der Geld, Aufstieg, Disziplin nicht das Wichtigste waren". Gunter Gebauer, Leiter des philosophischen Instituts, erinnert an das Anfixende und Euphorisierende, das jener Besuch damals entfaltete. Nun hat Gebauer die Ehre, bei Marcuses zweiter Heimholung der Gastgeber zu sein. Ein Gedenkkolloquium unter dem Titel "Die Praxis folgt der Wahrheit" soll an historischer Stelle der Aktualität seines Denkens nachspüren.
Den Anlass dafür bot die Überführung jener Urne, die Sohn Peter Marcuse und Enkel Harold im Lagerhaus eines Bestattungsunternehmens in Connecticut fanden. Nach längerer Beratung entschied die Familie, die Asche des gebürtigen Berliners in seiner Heimatstadt beizusetzen. Vor Jahresfrist formulierte man eine dementsprechende Anfrage an die Senatsverwaltung. Diese fand schließlich ein geeignetes Plätzchen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, unweit von Hegel und Brecht. Und so ging dann diese Woche, zum Ende einer kuriosen Odyssee, der Transfer vom Flughafen Tegel in einem schwarzen Cadillac vonstatten, in dem schon der Leichnam Benno Ohnesorgs transportiert wurde. Ein Kreis schließt sich.
Peter Marcuse gab zu, dass ihm nicht ganz klar sei, wie eine gerechte Bilanzierung des Wirkens seines Vaters aussehen solle. Wie könne man das persönliche Charisma von der Attraktivität seines Denkens, wie die sentimentalen von den emotionalen Momenten der Erinnerung trennen? Im Hinblick auf den Anekdotenreichtum, den die Archivare der Studentenbewegung pflegen, sei sehr zu wünschen, dass die Veranstaltung nicht zu einem "Nostalgietrip" werden möge.
So ganz wurde er nicht erhört. Denn sowohl die eigens zu Authentifizierungszwecken eingeflogene Bürgerrechtsikone Angela Davis, die Marcuse eine "enorme intellektuelle Präsenz" bescheinigte, als auch die ehemaligen Berliner Asta-Vorsitzenden Helmut Häußermann (Ex-SHB) und Wolfgang Lefèvre (Ex-SDS) überboten einander im Chronisteneifer. Marcuse sei in jenen Julitagen 1967 als ein "Gesprächspartner mit Reputation" aufgetreten, dessen leidenschaftliche Kapitalismuskritik "uns das Herz wärmte". Wenngleich er dem rigiden Ableitungsmarxismus, der damals überwog, mit milder Nonchalance begegnete, wurde er zu einem wichtigen Katalysator für die vielen politischen Forderungen, die gerade im Begriff waren, sich von bloßen Hochschulinterna auf die Schaffung eines "neuen Menschen" in den Befreiungskriegen der Dritten Welt auszuweiten. Marcuse selbst schätzte seine eigene Rolle wohl etwas realistischer ein. Wie sein Nachlassherausgeber Peter-Erwin Jansen erwähnte, schrieb er über den Berlinbesuch in einem Brief an Leo Löwenthal: "Sie haben mich wie einen Messias empfangen."
Für Eberhard Lämmert, seinerzeit noch ein aufsteigender Stern am Germanistenhimmel, traf Marcuse "wie der zündende Funke auf ein Pulverfass". Weil man die Krise einer auf die Spitze getriebenen Leistungsgesellschaft längst als "ganzheitlich" empfand und den großen Umsturz ungeduldig herbeisehnte, seien so manche seiner prophetischen Denkfiguren "nur allzu gerne in kurzfristige Verheißungen umgemünzt" worden. Marcuses ehrenwerter Versuch, verständlicher und zugänglicher als die elitären Frankfurter Kollegen zu sein, traf nicht selten auf die Bereitschaft zu einer kruden Eins-zu-eins-Entsprechung.
Axel Honneth sah bereits in der Selbstbeschreibung Marcuses als "unverbesserlicher, sentimentaler Romantiker" eine wichtige Differenz zu Adorno, was den intellektuellen Habitus anbetrifft. Viel mehr als der eitle Stilist vom Grand Hotel Abgrund sei er "auf exoterische Wirkung bedacht gewesen" und habe deshalb eine gewisse "habituelle Naivität" kultiviert. Diese wollten sich die zahlreich erschienenen ehemaligen SDSler im Auditorium allerdings nicht nachsagen lassen und mischten das Podium kräftig auf. Defätismus, Rückwärtsgewandtheit und Männerbund lauteten die am häufigsten erhobenen Vorwürfe - im Grunde habe sich nichts verändert. Einigen konnte man sich höchstens darauf, dass das Weltsozialforum und das linke Projekt www.indymedia.org zumindest erahnen ließen, dass Marcuses Denken auch heute wieder eine gewisses "Gefahrenpotenzial für das System" besitze. Nur von Utopie sprach, anders als 1967, keiner mehr.
taz Berlin lokal Nr. 7109 vom 21.7.2003, Seite 25, 66 Zeilen (TAZ-Bericht), Jörg Sundermeier
Wochenübersicht: Lautsprecher [back
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Jörg Sundermeier sichtet die soziale Bewegung in der Stadt
Herbert Marcuse ist seit der vergangenen Woche in Berlin, seine Asche ruht nun ihn unmittelbarer Nähe der Gräber von Hegel und Fichte. Fichte! Musste man ihm das antun? Wahrscheinlich. So oder so scheint Berlin daraufhin derart links geworden zu sein, dass alle, Bankenskandal hin und Sozialabbau her, sich in die Sonne legen dürfen, bei dem ewigen Film Michael Moores - der bei den meisten Linken inzwischen das Denken ersetzt - oder gar bei Pippi-Langstrumpf-Filmen (hihi!) Cocktails schlürfen und sich für aufrechte Szene halten. Einigen Wackeren allerdings ist es aufgefallen, dass bei der so genannten "Affäre Friedman", die ja nach seiner Presseerklärung und seinen Rücktritten gemeinhin als "abgeschlossen" gilt, sich die Leute doch endlich mal erlaubt haben, zu sagen, "was alle denken". Und so wurde aus dem Fernsehmoderator ganz schnell der "Lackel", der Kokain genommen hat und zu Prostituierten ging, was leider alle tun, bei ihm aber ein Großskandal war. "Einer, der so zu Unrecht beschädigt und durch die Gosse gezogen wurde, muss sich fragen lassen, was mache ich eigentlich in diesem Land?", sagte der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann. Das fragt man am Donnerstag auch im Saal der Jerusalem-Gemeinde, Jörg Rensmann und Natascha Wilting referieren. Am Samstag lädt die Villa Kunterbunt zu einem Infoabend - der Rechtsradikalismus in Reinickendorf ist das Thema. Und damit eine Frage, die nicht ohne ist, da doch die meisten angesichts der Nazidichte in Bezirken wie Hellersdorf vergessen, dass auch in Charlottenburg, Steglitz oder eben Reinickendorf der Nazi nicht selten nebenan wohnt. Man gehe nur aufmerksam durch eine Straße, schaue in die Wohnungen und achte auf Reichskriegsflaggen - dann ist man erstaunt, wie viele, ganz offensichtlich organisierte Nazis in den Kiezen leben.
taz Nr. 7110 vom 22.7.2003, Seite 10, 19 Zeilen (LeserInnenbrief) [back to top]
Im Namen der Umverteilung
betr.: "Marcuse soll wieder leben" (vergriffen), taz (Brennpunkt) vom 18. 7.
03
Wer behauptet hier, Marcuse sei vergessen? Ich brauche in keine Bibliothek zu gehen, um ihn zu lesen. Er steht bei mir im Regal, und ich habe gerade in seinem Suhrkamp-Bändchen "Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft" gelesen. Dort heißt es zum Schluss: "Die Kraft des Negativen (�) ist die Weigerung, mitzumachen und mitzuspielen, der Ekel vor aller Prosperität (�). Es ist eine schwache Opposition (�), die mit dem bestehenden Ganzen in unversöhnlichem Widerspruch steht."
Die Opfer des Neoliberalismus in Deutschland scheinen zu verschlafen, was ihnen die Politik in Namen der Umverteilung von unten nach oben antut. Die Deutschen sind Schafe, die sich mit einem Eimer voll Futter willig auf den Viehtransporter locken lassen, damit die Feinschmecker in den oberen Schichten zartes Lammfleisch gemeinsam mit einer Flasche Premier Grand Cru, Jahrgang 1982, verzehren können. Wohl bekomms, Herr Hundt und Herr Henkel. KLAUS BAUM, Kassel
28.7.2003 taz Berlin lokal tazplan-Programm 27 Zeilen, S. 24 [back to top]
Stille Orte (1): Wo sich Marcuse und Brecht gute Nacht sagen
Wenn die Stadt im Halbschlaf versinkt, kann man immer noch den Dorotheenstädtischen Friedhof besuchen. Hier hört man die Vögel zwitschern, und überall liegen alte Bekannte
Man merkt es tatsächlich, die Stadt leert sich. Vor der Ankerklause sind Stühle frei, selbst auf der Kastanienallee kommt man inzwischen durch, ohne Fußgänger zu überfahren. Die sommerliche Leere der Stadt hat Vorteile, in einer Hinsicht aber ist sie gar nicht gut. Wie soll man, wenn alle im Urlaub sind, Promis gucken? Die sind ja ebenfalls weggefahren. 90 Grad: tote Hose, Sage Club: leer. Als Alternative bietet sich der Dorotheenstäditsche Friedhof an. Hinter den hohen Mauern klingt der Straßenlärm deutlich gedämpft, man hört die Vöglein zwitschern, und überall liegen Prominente. Kleine Auswahl: Fichte (stolzes Grabmal), Hegel (biedermeierlich schlicht), Heiner Müller, Bertolt Brecht, Herbert Marcuse (neu). Einfach auf dem Lageplan nachgucken.
prepared for the web by Harold Marcuse, July 29, 2003
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