Telepolis ("Magazin der Netzkultur"), 20 July 2003 (link to original)
Marcuse im Cadillac
Katja Schmid 20.07.2003
Eigentlich ist es dem Internet zu verdanken, dass die Asche von Herbert Marcuse in Berlin begraben wurde
Das Coolste war dieser Cadillac Baujahr 1966, der am Montag vormittag unendlich langsam über den Sand rollte. Kaum zu glauben, dass unter der schwarzen Motorhaube acht Zylinder am Werk waren, denn kaum hörbar glitt die Limousine an der Friedhofsmauer entlang. Und als der Chauffeur den Motor schließlich abstellte, war höchstens ein Wummern zu hören. Dann öffnet sich die Beifahrertür, ein ehrwürdiger Herr steigt aus, geht zum Fond und öffnet die Flügeltür.
Die Ankunft des Cadillac auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof. Bildquelle: moritz R
Auf dem Friedhof ist nichts los. Ein freier Fotograf, eine freie Journalistin
und ihr Begleiter. Sonst wartet keiner. Dabei ist dies nicht irgendein Wagen.
Dies ist ein Leichenwagen der Extraklasse. Eine Legende, die schon Benno Ohnesorg,
Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Horst Buchholz auf deren letzter Reise
begleitet hat und die zu diesem Zeitpunkt eigentlich im Museum stehen sollte.
Schließlich hatte die Berliner Bestattungsfirma Ahorn-Grieneisen erst
wenige Tage zuvor genau diese Limousine dem Deutschen Technikmuseum geschenkt.
Allerdings unter der Bedingung, sie für besondere Anlässe benutzen
zu dürfen. An diesem Montag war Herbert Marcuse der Anlass, genauer gesagt
seine Asche, die kurz zuvor am Flughafen Tegel angekommen war. Im Handgepäck
seines Sohnes Peter Marcuse. In den USA ist man nämlich nicht so zimperlich
wie in Deutschland. Dort dürfen Angehörige die Asche ihrer Liebsten
mit sich herumtragen und zu Hause auf dem Kaminsims aufstellen.
Das Ende der Kritik am Kapitalismus
Hierzulande dürfen Privatleute keine Toten und deren Überreste transportieren oder gar aufbewahren. Offiziell herrscht Friedhofszwang, und wer sich darüber hinwegsetzt, bekommt Ärger. Deshalb musste Peter Marcuse die Asche seines Vaters am Zoll aushändigen, wo sie dann ein Mitarbeiter aus dem Hause Ahorn-Grieneisen in Empfang nahm. Mit von der Partie war die Presse und nicht zuletzt ein Team des RBB, das im Auftrag der Familie Marcuse die Heimkehr des Philosophen dokumentieren soll. So ist es zu erklären, dass erst mal keine Urne zu sehen ist, als die Flügeltür schließlich geöffnet wird. Stattdessen klettern Regisseur und Kameramann heraus und diskutieren erst mal. Und weil man dies und das nicht beziehungsweise anders im Bild haben möchte, dreht man das Ganze noch mal. Also fährt der Cadillac wieder los und passiert etwa zehn Minuten später noch einmal die Einfahrt.
In diesem Karton wurde die Urne am 11.09.1979 in die Vereinigten Staaten geschickt. Bildquelle moritz R
Auf diese Weise hat Marcuse eine kleine Ehrenrunde gedreht um seine letzte Ruhestätte.
Und wer sich darüber aufregt, dass ein bekennender Marxist seine letzte
Fahrt in einem Cadillac absolviert, der sei daran erinnert, dass die Vision
von Marx weniger mit ‚Armut für alle' als vielmehr mit ‚Reichtum
für alle' auf den Punkt gebracht werden könnte. Außerdem zitierte
Marcuse gerne mal Brecht mit den Worten: "Ein Mensch, der eine gute Zigarre
nicht zu schätzen weiß, hat auch kein Recht, die Revolution zu machen."
Nun ist eine Zigarre zwar kein Cadillac, aber wozu gibt es denn das Internet.
Schnell mal ‚Marcuse Cadillac' eingegeben, und siehe da, es gibt ein passendes
Zitat:
Wenn der Arbeiter und sein Vorgesetzter dasselbe Fernsehprogramm sehen und
ihren Urlaub an denselben Orten verbringen, wenn die Schreibkraft ebenso attraktiv
zurechtgemacht ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Schwarze einen
Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann ist diese Angleichung
kein Indiz für das Verschwinden von Klassenunterschieden, sondern vielmehr
ein Indiz für das Ausmaß, in dem die Bedürfnisse und deren Befriedigung,
die der Erhaltung des Establishments dienen, von der einfachen Bevölkerung
geteilt werden
Herbert Marcuse. In: One-Dimensional Man, (1964), 1. Kapitel (ÜS: K.S.)
Mit anderen Worten: Wenn alle konsumorientiert leben, dann hat der Kapitalismus
gesiegt. Insofern könnte man die Fahrt im Cadillac als das Ende der Kritik
am Kapitalismus begreifen. Wenn da nicht das Unternehmen Ahorn-Grieneisen wäre,
das sein Prachtstück eben nicht an jenen privaten Sammler verkauft, der
immerhin 75.000 Euro geboten hat, sondern einem Museum schenkt. Man könnte
den Spieß also umdrehen und behaupten, der Kapitalismus als solcher sei
reif fürs Museum. . . Passend dazu befindet sich im Deutschen Technikmuseum
übrigens auch eine Sammlung internationaler Geldscheine. Und ist es nicht
bemerkenswert, dass Marcuses Asche jetzt im selben Cadillac befördert wurde
wie damals Benno Ohnesorg? Da schließt sich ein Kreis, und man wird das
Gefühl nicht los, hier gehe tatsächlich eine Epoche zu Ende. Doch
zurück zu Marcuse.
Wollt ihr Marcuse wiederhaben?
Eigentlich ist es dem Internet zu verdanken, dass die Asche von Herbert Marcuse ausgerechnet jetzt und ausgerechnet in Berlin begraben wurde. Fast auf den Tag genau 105 Jahre, nachdem Herbert Marcuse in Berlin zur Welt kam. Im Dezember 2001 nämlich fragte ein Philosophie-Dozent aus Antwerpen per Mail bei Herbert Marcuses Enkel Harold Marcuse an, wo der Philosoph denn eigentlich begraben sei. Und Harold Marcuse antwortete: "Das ist eine interessante Frage." Mit anderen Worten: er wusste es nicht.
Jedenfalls nicht genau. Soviel er wisse, fügte Harold Marcuse hinzu, sei Herbert Marcuse in Österreich eingeäschert worden. Die Urne befände sich in New Haven, Connecticut, sei dort aber nicht bestattet. Sobald er mehr herausgefunden habe, werde er sich melden. Gesagt getan: Harold Marcuse stellt fest, dass die Urne nach wie vor bei einem Bestattungsunternehmen namens Weller in New Haven, Conneticut, im Regal steht und diskutiert mit der Familie, was nun eigentlich geschehen soll mit ‚Herbert's Ashes' . Die einen wollen, dass er an einem Ort begraben wird, wo Verwandte, Freunde und Bewunderer seiner gedenken können. Favorit ist Berlin, weil Marcuse dort geboren wurde und weil in Berlin eine ganze Reihe denkwürdiger Personen begraben ist. Oder in Frankfurt, weil Marcuse schließlich Mitbegründer der so genannten Frankfurter Schule war. Die anderen plädieren dafür, seine Asche an einem Ort zu verstreuen, der Marcuse zu Lebzeiten Freude bereitet hat. Zum Beispiel in La Jolla bei San Diego, wo Marcuse an der University of California gelehrt hat. Oder bei Pontresina in der Schweiz.
Insbesondere Irene Marcuse - die Schwester von Harold Marcuse - findet, "Deutschland hat genügend jüdische Asche!" Außerdem sei Marcuse nicht in Österreich, sondern in der Schweiz eingeäschert worden. Sozusagen auf neutralem Boden. Ein nicht unwesentliches Detail, wenn man bedenkt, dass Marcuses dritte Ehefrau, Erica Sherover, seinerzeit großen Wert darauf gelegt hatte, dass Marcuse auf keinen Fall auf deutschem Grund und Boden verbrannt wird. Erstens hatte Marcuse, marxistischer Philosoph jüdischer Abstammung und Mitbegründer der Frankfurter Schule, Deutschland bereits 1930 verlassen. Zweitens war er, anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nie dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt. Nur zu Vorträgen kam er gelegentlich zurück in seine alte Heimat. Zum Beispiel in jenem Sommer 1979, als er an den Römerberggesprächen der Stadt Frankfurt teilnahm und anschließend das Max-Planck-Institut in Starnberg besuchte - wo er einen Hirnschlag erlitt und kurze Zeit später verstarb.
Bildquelle: moritz R
Am Ende der Diskussion - die man fast vollständig nachlesen kann auf der
Website der Familie - machen die Nachkommen die Entscheidung pro oder contra
Deutschland letztlich davon abhängig, ob "Deutschland die Asche aktiv
haben will oder nicht". Diese Haltung erinnert an die Meinungsumfrage "Wollt
ihr Thomas Mann wiederhaben?", welche die amerikanischen Besatzer kurz
nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr
von Thomas Mann und anderen Emigranten gemacht hatte. Nachzulesen in "Wollt
ihr Thomas Mann wiederhaben?" Deutschland und die Emigranten von Jost Hermand
und Wigand Lange. Man wollte ihn nicht wirklich zurückhaben, und Mann selbst
zog es eher in die Schweiz, wo er 1955 in Kilchberg bei Zürich begraben
wurde.
In Sachen Marcuse kam es nicht zu einer Meinungsumfrage, vielmehr musste stellvertretend für das deutsche Volk der Berliner Senat entscheiden, ob Herbert Marcuse ein Ehrengrab bekommt oder nicht. Und zwar auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof. Denn hier liegt nicht nur Heinrich Mann (1871-1950), der Bruder von Thomas Mann, begraben, sondern auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Bertolt Brecht (1898-1956), Helene Weigel (1900-1971), John Heartfield (1891-1968), Heiner Müller (1929-1995), Anna Seghers (1900-1983), Arnold Zweig (1887-1968), Johannes R. Becher (1891-1958), Hanns Eisler (1898-1962) und Hans Mayer (1907-2001). Die Familie nahm an, diese illustre Gesellschaft hätte Herbert Marcuse gefallen. Der Senat sagte Ja und damit die Beisetzung auch einen geistigen Überbau bekommt, fand an der Freien Universität Berlin einen Tag vor der Beisetzung ein Gedenkkolloquium zu Ehren von Herbert Marcuse statt.
Die Kritik am Kapitalismus ist noch nicht erledigt
Dieses Gedenkkolloquium sollte keine Nostalgie-Veranstaltung sein, wie Peter Marcuse - der greise Sohn des Philosophen - immer wieder betonte. Man wolle Marcuse nicht historisieren und seine Ideen dadurch womöglich verharmlosen. Im Gegenteil. Man wolle der Frage nachgehen, welche Aktualität das Werk Marcuses heute noch habe - schließlich hat sich die Kritik am Kapitalismus lange nicht erledigt. Und auch die Frage nach angemessenen Formen des Widerstands ist nach wie vor virulent. So hatte Marcuse im Jahre 1965 geschrieben:
Aber ich glaube, daß es für unter drückte und überwältigte
Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel
anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt
haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen,
welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute
Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren,
die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen - nicht für persönlichen
Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen.
Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten
Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden,
beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte.
Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind,
es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher
und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltsamkeit zu predigen
Herbert Marcuse. IN: "Repressive Toleranz" (1965), erschienen in:
"Kritik der reinen Toleranz"
Insgesamt war das Symposion dann aber doch größtenteils vergangenheitsbezogen,
etwa indem lang und breit über die näheren Umstände der Vortragsreihe
Herbert Marcuses im Juli 1967 an der Freien Universität Berlin referiert
wurde. Andererseits war es nicht ganz uninteressant, von den damaligen Asta-Vorsitzenden
und heutigen Professoren Hartmut Häußermann und Wolfgang Lefèvre
zu hören, wie sich die Lage im Sommer 1967 allmählich zugespitzt hat.
Denn fünf Wochen vor Marcuses Teach-In, am 2. Juni 1967, war in Berlin
der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Schah
von Persien erschossen worden - dieses Ereignis war der Auslöser für
eine Radikalisierung der Studentenbewegung, die sich zuvor eher mit uni-internen
Phänomenen von Bevormundung als mit gesamtgesellschaftlichen Formen der
Unterdrückung beschäftigt hat.
Weil man es jedoch nicht bei der Vergangenheitsbewältigung belassen wollte, erging ganz zum Schluss der Tagung an Angela Davis , die wohl berühmteste Schülerin von Marcuse, die Aufforderung, doch bitte von aktuellen Widerstandsbewegungen in den USA zu berichten. Stellvertretend seien genannt Davis' Engagement gegen den Gefängnis-Industrie-Komplex - hier richtet sich der Blick auf die Geldmaschine Gefängnis, auf die bedenklichen Folgen der Privatisierung von Strafanstalten und auf die Tatsache, dass sehr viel mehr Schwarze und Hispanics als Weiße in den Gefängnissen sitzen -, sowie diverse Initiativen gegen ‚disenfranchisement', also gegen den Entzug der Wahlberechtigung vorbestrafter Kapitalverbrecher. Wobei es das amerikanische Rechts- und Gefängnissystem mit sich bringt, dass die Mehrzahl der solchermaßen Entmündigten Schwarze sind - was sich natürlich auf das Wahlergebnis auswirkt. Man denke nur an die Entmündigung von Vorbestraften in Florida im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2000. Jener Wahl also, aus der George W. Bush als Sieger hervorging.
Beigesetzt wurde die Asche von Herbert Marcuse dann am Freitag, einen Tag nach dem Kolloquium. Ursprünglich war die Zeremonie für Samstag, den 19. Juli geplant, weil deutsche Friedhofsangestellte samstags jedoch eher ungern für Bestattungen zur Verfügung stehen, wurde die Asche von Herbert Marcuse eben einen Tag vor seinem 105. Geburtstag bestattet.
Die Urne bei der Ankunft auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof. Bildquelle: moritz R
Wer heute Marcuse lesen möchte, hat es übrigens nicht leicht - vieles ist vergriffen und wird nicht mehr aufgelegt. Immerhin gibt der Lüneburger Verlag zu Klampen Herbert Marcuses nachgelassene Schriften heraus. Bereits erschienen - und leider auch schon wieder vergriffen - sind zum Beispiel die so genannten ‚Feindanalysen', Berichte über das geistige Klima in Nazideutschland, die Marcuse während des Zweiten Weltkriegs für den amerikanischen Geheimdienst verfasste . Und im April 2004 erscheint mit ‚Der eindimensionale Mensch' wenigstens eines der Hauptwerke von Marcuse bei dtv.