Junge Welt
Articles about the burial of Herbert's Ashes, July 2003

prepared for the marcuse.org/herbert website by Harold Marcuse, July 29, 2003


July 17, 2003
24 Jahre nach dem Tod von Herbert Marcuse: Warum wird er jetzt in Berlin beigesetzt?

jW sprach mit Peter-Erwin Jansen, Herausgeber des Nachlasses von Herbert Marcuse und Leo
Löwenthal

Interview: Conny Lösch [F stands for Frage, question]

F: Morgen wird die Asche von Herbert Marcuse auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Wo hat sich die Asche seit Marcuses Tod 1979 befunden?
Herbert Marcuse ist in Starnberg gestorben, wo er sich auf Einladung von Jürgen Habermas aufhielt. Das Beerdigungsinstitut Zirngibl in Starnberg hat den Leichnam nach Salzburg zur Einäscherung geschickt, da es damals in Starnberg noch kein Krematorium gab. Zurück in Starnberg wurde die Asche dann in die USA in die jüdische Reformgemeinde nach New Haven/Connecticut gesandt, zu der Herbert Marcuse seit den sechziger Jahren Kontakt gehalten hatte. Vor allem mit dem Rabbiner Bob E. Goldburg war er befreundet und hatte auf dessen Einladung mehrfach Vorträge dort gehalten. [This was a good guess; actually the contact to the funeral home in New Haven had nothing to do with Herbert. It was made through a colleague at his son Peter's former law firm.]

F: Wie kam es, daß man sich jetzt wieder für den Verbleib der Asche interessiert?
Die Urne stand da wohl 22 Jahre in einer Kammer. Als sich ein Student erkundigte, wo das Grab von Herbert Marcuse sei, kam die Familie auf die Idee, selbst nachzuforschen, wo die Asche ist.

F: Warum wurde sie damals nicht beigesetzt?
Nach Marcuses Tod hat man sich gefragt, wie eine angemessene Feierlichkeit aussehen könnte. Und die fand ja in Deutschland nie statt. Es gab eine kleine Gedenkfeier in Starnberg, wo man zusammen getrauert hat. Dann gab es in San Diego eine größere Veranstaltung, eine Beerdigungsfeierlichkeit, an der Leo Löwenthal beteiligt war. Marcuse wurde aber nicht beigesetzt. Dann ist die Sache in Vergessenheit geraten.

F: Woran lag es, daß man sich nicht entscheiden konnte, was mit der Asche geschehen soll?
Das hatte mit verschiedenen Haltungen innerhalb der Familie zu tun. Einmal die der Witwe Ricky Sherover-Marcuse, die selbst '88 an Krebs starb, dann die seines Sohnes Peter Marcuse. Nicht zuletzt auch von Marcuse selbst. Es gab keine Einigung, und das Beerdigungsinstitut hat Fakten geschaffen.

F: Gibt es testamentarische Verfügungen? Es ist ja ein bißchen merkwürdig, daß Marcuse seine letzte Ruhe in Deutschland finden soll.
Dazu will ich nichts sagen.

F: Anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatte sich Marcuse geweigert, wieder in Deutschland zu leben. Jetzt soll seine Asche hier beigesetzt werden. Ich finde das zumindest verwunderlich. [Actually, Jansen's later research showed that Herbert would have accepted a professorship at the Free University in Berlin in 1964, if a conservative professor there hadn't blocked the offer.]
Das ist eine Entscheidung der Familie. Ich würde das gar nicht politisieren. Das kann leicht einen sehr schrägen Charakter bekommen. Die Ehrung ist das öffentliche Ereignis: Heute findet ein Symposium an der FU statt, um Marcuse zu würdigen.

F: Berlin als Geburtsstadt von Herbert Marcuse leuchtet ein. Aber warum der Dorotheenstädtische Friedhof?
Weil das eine Grabstätte ist, die von den Verwandten nicht gepflegt werden muß. Die Grabpflege übernimmt die Stadt Berlin.

F: Eher ein pragmatischer Grund, ich hätte gedacht, weil Hegel und Fichte ebenfalls dort begraben liegen?
Das kommt natürlich hinzu, daß auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof eine Menge interessanter Leute liegen. Zum Beispiel Hegel, der ja für Marcuse sehr bedeutend war. Und auch Rudolf Bahro. Wenn man sich Marcuse zwischen diesen beiden denkt, ist das schon ein sehr vernünftiger Ort.


18 July 2003 [back to top]
Flieg, Herbie, flieg!
Zum 100. Geburstag von Herbert Marcuse

Christof Meueler

Habermas: Wer bestimmt, was das bessere Leben ist?
Marcuse: Genau auf diese Frage würde ich die Antwort verweigern.
Wenn jemand noch nicht weiß, was ein besseres Leben ist, ist er hoffnungslos.
(1977)

Wissen, wann es Zeit ist zu gehen: Am 29. Juli 1979 starb Herbert Marcuse, der am Sonntag hundert Jahre alt [actually on Saturday 105] geworden wäre. Er war der letzte internationale Popstar der Linken, weil er auf alle Widersprüche aus Politik und Zeitgeschehen nur eine Antwort hatte: Revolution. Du liebst mich nicht? Revolution! Sie wollen, daß ich länger arbeite? Revolution! Im Fernsehen kommt nur Unsinn? Revolution!

Mit Marcuse im Kopf konnte man so auftreten, weil für ihn der tägliche individuelle Ärger nur eine Ausprägung des allgemeinen Ärgers - von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung- darstellte und er so Theorie praktisch fühlbar machte. Marcuse servierte Marxismus nicht als Wissenschaft, sondern als Frage der Moral: 1969 sagte er dem "Spiegel", für ihn käme die Revolution "aus einem unerträglichen Ekel an der Art und Weise, wie die sogenannte Überflußgesellschaft den gesellschaftlichen Reichtum mißbraucht und verschleudert, während sie außerhalb der Metropolen das Elend und die Unterdrückung intensiv weiterbetreibt". Die Beschreibung trifft immer noch zu, nur die Revolution läßt auf sich warten. Die Linken aber dachten, sie hätten einfach Pech gehabt und haben Marcuse, kaum daß er gestorben war, wie eine Schallplatte, die man zu oft gehört hat, ins Archiv verdrängt, auf dem Flohmarkt verramscht oder in die Tonne getreten.

Zwar kann heute niemand erklären, warum die Revolutionsforderung obsolet geworden sein soll, doch man kann sich vorstellen, daß sie auf den Butterfahrten ins Bestehende nur störend wirkt, denn weniger ist zwar nicht mehr, aber auf schmerzfreie Weise lächerlich. Die von Marcuse geforderte "neue Sensibilität" hat sich unter seinen einstigen Apologeten mehrheitlich nur insofern entwickelt, seinem Alles-oder-nichts-Moralismus gegenüber allergisch zu reagieren, um darauf zu achten, daß in Beruf, Familie, Politik und Verbrechen alles seine feste Ordnung hat.

Ende der sechziger Jahre schien das einmal anders gemeint gewesen zu sein. Was aber nur heißt, daß die Wirkung von Theorien zeit- und kontext-abhängig ist: Oppositionelle Politik konnte damals nur deshalb Spaß machen, weil das Establishment Wert darauf legte, bierernst genommen zu werden.

Heute funktioniert die große Schröder-Show formal nach dem Spaßprinzip, die Zerschlagung des Sozialstaates inszeniert der Neoliberalismus als eine Art Witz, mit dem man sich über die ewiggestrige Armut lustig macht. Unter diesen Bedingungen könnte der magische Sound der berühmten Marcuse-Slogans "Große Weigerung", "Neuer Mensch" und "Ende der Utopie" (= sie wird real) problemlos reaktionär in Dienst genommen werden, verspricht er doch den reinen Wandel auf Erden. Alles fließt, bloß wohin?

Ende der sechziger Jahre aber funktionierten diese Slogans als linke Hit-Singles, bei denen man nur den Refrain mitsingen mußte, um sich als Teil einer weltweiten Fortschrittlichkeit zu imaginieren. Aufstand in den US-Ghettos? Pariser Mai? Wilde Streiks? Mit der "neuen Solidarität" war man immer dabei!

Marcuse war der einzige Vertreter der Kritischen Theorie, der sich mit der Neuen Linken offen solidarisierte. Auch wenn rückblickend Horkheimers und Adornos Zweifel an der Radikalität der Neuen Linken angesichts des späteren Kuschelns ihrer Führer wie Semmler, Rabehl oder Schmierer mit der permanenten Konterrevolution verständlich scheinen, war diese Kombination aus Dummheit und Versagen damals nicht erkennbar. Zur Enttäuschung von Marcuse hielten sich Horkheimer und Adorno skeptisch grummelnd backstage auf, während er als Nr. 3 der Frankfurter Schule die ganze Arbeit machen mußte. Der stadionkompatible Revolution Rock von 1968 bestand darin, das offene Geheimnis auszuposaunen, daß die einzig zulässige Praxis der Kritischen Theorie nur die der Revolution sein kann. Klatsch in die Hände und tanz den Herbert Marcuse!

Im Gegensatz zu den nur theoretisch agierenden Horkheimer und Adorno tat Marcuse alles, um die unversöhnliche Kraft der Negation massenwirksam zu verflotten und sie als Anleitung zum Handeln auszurufen. Damit entwickelte er ein Kontrastprogramm zur offiziellen Stillhaltepolitik des Frankfurter Instituts für Sozialforschung: Während Adorno von den Neuen Linken ebenso wie von den alten Rechten einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, so fragt man sich bei den öffentlichen Verlautbarungen von Horkheimer, der sich nur in seinen Privatnotizen radikal mosernd zu äußern wagte, warum er nicht in die CDU eingetreten ist. Demgegenüber spielte Marcuse den Berufsoptimisten. Schon in seinem Hauptwerk "Triebstruktrur und Gesellschaft" (1955) hatte er versucht zu zeigen, wie die Negation der Kritischen Theorie positiv formulierbar sein könnte. Krankt für Horkheimer und Adorno alle Zivilisation an der Unterdrückung der inneren Natur, die notwendig ist, um die äußere Natur zu beherrschen, so hält Marcuse die diesem Modell zugrunde gelegte freudianische Annahme einer hierarchischen Beziehung zwischen Realitäts- und Lustprinzip für historisch variabel. Stärkt man das Lustprinzip durch die Förderung der Phantasie und den Abbau von Leistungsdruck, zum Beispiel durch die Verkürzung der Arbeitszeit, dann "könnten sich Vernunft und Trieb verbünden" und Herrschaft wäre fundamental in Frage gestellt. Das überall gefürchtete Irrationale würde rationalisiert und damit die von Marcuse in "Der Eindimensionale Mensch" (1964) konstatierte fatale gesellschaftliche Verschmelzung von technologischer und politischer Rationalität dahingehend geschwächt, daß die Individuen in die Lage versetzt wären, eine "Neubestimmung ihrer Bedürfnisse" vorzunehmen. Wer das politisch durchsetzen soll, bleibt bei Marcuse dunkel.

Abenteuerlich dunkel. Aber "wenn in einer Revolution nicht ein Element des Abenteuers steckt, ist sie wertlos. Alles andere ist Organisation, Gewerkschaft, Sozialdemokratie, Establishment", vertraute er 1969 Twen an. Obwohl Marcuse nie an eine Revolution ohne die Arbeiterklasse zu denken gewagt hätte, fehlte ihm jede Phantasie, wie man sie an den Start hätte bringen können. Dieses Problem ehrlich eingestehend, machte er die Revolution zu einer rein individuellen Angelegenheit. Aufgeklärte Menschen sollten als "Katalysatoren" wirksam werden, um ein Bewußtsein zu artikulieren, "das eigentlich das Bewußtsein der abhängigen Bevölkerung ist, aber in dieser Bevölkerung noch nicht artikuliert erscheint". So lange dies noch nicht der Fall ist, wirkt Marcuse mit seinen Ideen so vorbildlich-überkandidelt wie sein Namensvetter in den Kinowerbefilmen des Volkswagenkonzerns: Auch der muntere Käfer "Herbie" setzt das Ende der Utopie voraus, wenn er einfach in die Luft abhebt, weil er weiß, daß er fliegen kann.

(Siehe auch folgende Rezension)


July 18, 2003 [originally published on July 18, 1998][back to top]

Faschismus als Feind
Acht Deutschland-Analysen aus dem Marcuse-Nachlaß in einem Band

Arnold Schölzel

Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen. Hg. von Peter-Erwin Jansen. Mit einer Einleitung von Detlev Claussen. zu Klampen Verlag, Lüneburg 1998, 149 Seiten, DM 24

Im Winter 1942/43 trat Herbert Marcuse in das Office of War Information und das Office of Strategic Services, beides Nebenstellen der amerikanischen Geheimdienste, ein. Bereits zuvor hatte der emigrierte Philosoph begonnen, Texte zur ideologischen Situation in Nazi-Deutschland zu verfassen, die in dem von Peter-Erwin Jansen herausgegebenen Band "Feindanalysen. Über die Deutschen" merkwürdigerweise nicht in chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden.

Die Entstehungsdaten der aus dem umfangreichen Nachlaß - Jansen schreibt von 40 000 Blatt - hier veröffentlichten Texte liegen nach den Angaben des Herausgebers zwischen 1939 und 1947. Sie wurden bis auf einen in englisch verfaßt und widmen sich relativ heterogenen Gegenständen: "Deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert" (Juli 1940), "Ist eine freie Gesellschaft gegenwärtig möglich?" (1939), "Kriegs- und Nachkriegsgeneration" (Februar 1941) oder "33 Thesen zur militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus" (Februar 1947). Letztere werden von Jansen in Übereinstimmung mit der auf sechs Bände angelegten amerikanischen Marcuse- Ausgabe unter dem Titel "33 Thesen" veröffentlicht.

Verkürzt bis zur Irreführung erscheint der Untertitel des vorliegenden Bandes. Natürlich schreibt Marcuse, wenn er über Deutschland schreibt, auch über "die" Deutschen. Insbesondere in der die Textsammlung eröffnenden Studie "Die neue deutsche Mentalität. Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung" (Juni 1942) geht Marcuse auf die Frage ein, "ob man zwischen dem deutschen Volk und seinem Regime unterscheiden kann" und antwortet: "Wir müssen diese Frage mit einem zeitlichen Index versehen. Im Augenblick läßt sich keine klare Unterscheidung treffen."

Der Sache nach geht es gerade in allen Texten um das Problem, wie Regime und verschiedene Teile der deutschen Bevölkerung voneinander unterschieden werden können und mit welchen politischen und propagandistischen Mitteln im und nach dem Krieg Änderungen in der politischen und ideologischen Verfassung erreicht werden können. An einem läßt Marcuse - auch durchgängig - keinen Zweifel: Zwischen "Großindustriellen und den mit ihnen eng verbundenen oberen Rängen von Partei und Staatsbürokratie" zu differenzieren, lohnt nicht (vgl. S. 61 f, 68 f, 76 ff.). Die sozialen Gegensätze seien in Deutschland "unter dem dünnen Schleier der 'völkischen Gemeinschaft' viel ausgeprägter entwickelt als in den demokratischen Staaten". Daher hält er es für wirkungsvoll, diese sozialen Antagonismen bloßzulegen. Das von ihm gewählte Beispiel hätte ihm in den Aufregungen der Goldhagen-Promotion eine schlechte Presse eingetragen: "In den Berichten über die gegen die Juden ergriffenen Maßnahmen wurde die Betonung fast ausschließlich auf die führende Rolle und die Grausamkeit von SS und Partei sowie auf den passiven Widerstand der Massen gelegt.

Doch hätte man ebenso großes Gewicht auf die Feststellung legen müssen, daß die wirklichen Nutznießer dieser Maßnahmen nicht die kleinen Händler und Kaufleute, sondern die mächtigen Wirtschaftsunternehmen waren. Konkrete Beispiele sind nicht schwer zu finden." Amerikanische Zeitungen hätten oft über die Restriktionen der Nazis fürs Kapital berichtet, selten sei aber die Rede davon, daß "die Position führender Wirtschaftsunternehmen eher gestärkt als geschwächt wurde". Das war ja auch ein Zweck des Ganzen, wie Marcuse, der z. B. die Hitler-Rede im Industrieclub 1932 zitiert, noch wußte. Ob Marcuse der Meinung war, "im Zentrum des neuen Systems steht das Verbrechen, nicht der Profit" - wie Detlev Claussen im Vorwort des Bandes schreibt - darf mit Grund bezweifelt werden. Der Antifaschist Herbert Marcuse geht in diesen Texten den Beziehungen von Herrschenden und Beherrschten im kapitalistischen und faschistischen Deutschland in begriffsstarker Weise nach, d. h. genau unterscheidend, aber Ursachen und Wirkung nicht auf den Kopf stellend. Eindeutigkeit dieser Art gilt auch bei denen, die sich auf ihn berufen, heute meist als überholt.


Junge Welt clipping on Herbert's burial, July 21, 2003July 21, 2003 [back to top]
(the arrogant tone of this article prompted Petra Pau, a PDS representative in the Bundestag who had given the Marcuse family a tour of the Reichstag on the preceding Thursday, to cancel her subscription: link)

Anders vergehen
Wer früher stirbt, ist länger tot: Wie Herbert Marcuse in Berlin beigesetzt wurde

Christof Meueler

Am Freitag wurde die Urne mit der Asche von Herbert Marcuse auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte vergraben. Marcuse wollte richtig leben, immerhin, richtig beigesetzt wurde er 24 Jahre nach seinem Tod. Das wußten auch alle Beteiligten, insofern war das eine unprätentiöse, eigentlich ziemlich lässige Angelegenheit.

Ursprünglich war nach seinem Tod, 1979 am Starnberger See, ein Marcuse-Kongreß geplant, aber Weihnachten 79 starb Rudi Dutschke. So erschien das Projekt als zu energiearm, hatte sich sich der nationalistisch-christliche Flachdenker doch immer als Marcuses Meisterschüler imaginiert, um von diesem in spezifischen Marcuse-Auslegungsfragen nie mehr als ein höhnisches "Ask Habermas!" ("Frag Hambermas!") zu hören. Marcuse selbst war an Jenseitigkeiten desinteressiert. In seinem Hauptwerk "Triebstruktur und Gesellschaft" (1955) forderte er, Eros müsse Thanatos, den Todestrieb, besiegen. Ein Theoretiker der Tat. Anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wollte er im postfaschistischen Deutschland nicht wohnen. Aber vielleicht nur deshalb, weil Horkheimer und Adorno ihn stets auf die Nummer drei der Frankfurter Schule zurechtstutzten. Das muß man auch mal positiv sehen: Er setzte nicht auf die Kraft der Negation, sondern auf Berufsoptimismus und wurde der einzige Vertreter der kritischen Theorie, der mit der neuen Linken offen sympathisierte. Schwer war das nicht. Marcuse mußte nur das offene Geheimis ausposaunen, daß die einzig zulässige Praxis der kritischen Theorie nur die der Revolution sein kann. Wie man es früher auf Agitpropaufklebern lesen konnte: Laß dich nicht BRDigen!

Collage of Herbert Marcuse among urnsEben drum. Erst 2001 wollte ein Student von Marcuses Sohn Peter, emeritierter Professor für Stadtplanung in New York, wissen, wo sein Vater begraben liege. Genau darüber war sich die Familie nie einig geworden. Die Urne des 1979 in Österreich Eingeäscherten befand sich erst in der Abstellkammer eines reformjüdischen Bestattungsunternehmens in New Haven, Connecticut, bevor sie Peter Marcuse nach dem Tod von Marcuses dritter Ehefrau Ricky bei sich zu Hause plazierte.

Dieses Jahr wird er 75, sein Vater wäre am Samstag 105 geworden, da kommt einiges zusammen, sagt der Herausgeber des Marcuse-Nachlasses bei zu Klampen, Peter-Erwin Jansen. In nur drei Wochen hätte die Familie entschieden, Berlin bekommt das Marcuse-Grab, meint Harold Marcuse, Enkel von Herbert, Sohn von Peter, Dozent für deutsche Geschichte in Santa Barbara. Bedingung war allerdings ein Ehrengrab, der Senat hat akzeptiert. Heißt aber erst mal nur: Das Land Berlin übernimmt für 20 Jahre die Kosten. Herbert Marcuse ist in Berlin geboren, zur Schule gegangen, hier hat er seine erste Frau geheiratet, und Sohn Peter wurde dort geboren. 1934 waren Marcuses von den Nazis in Berlin gezwungen, sämtlichen Besitz billigst abzugeben, um mit einem Visum flüchten zu dürfen. Peter Marcuse empfindet das Ehrengrab als Ausdruck von Gerechtigkeit. Die Marcuseasche krümelt jetzt einen Pflastersteinwurf neben Hegel.

Den Weg ins Berliner Grab muß man sich so vorstellen: Punkt halb elf � offizieller Termin � schultert ein Anverwandter Herbert Marcuses seinen zirka zweijährigen Sohn, während ein streng kurzhaariger Friedhofsbediensteter, Anfang 20, in schwarz-grauem Anzug stechschrittartig, die schwarze Urne vor sich her tragend, aus der alten Friedhofskapelle hervorparadiert, die 50köpfige Beerdigungsgesellschaft formiert sich hinter ihm. Zum kleinen Grab auf dem überfüllten Prominentenfriedhof sind es drei Minuten gemäßigter Weiheschritte. Vorbei an der Straße der DDR-Besten: Weigel/Brecht, Heinrich Mann, Johannes R. Becher. Da schweigt sogar die ansonsten beiläufig dies und das schnatternde, aber schwer verlegene PDS-Delegation aus Petra Pau, Thomas Flierl, Heinrich Fink samt Anhang.

Am Grab dominiert das schwarzgewandete Grauhaarigentum ab 50. Eine Seite stille Familie-Freunde-Dabeiseinmüsser, eine Seite wispernde Journalisten. Ein einziger � graumelierter � Langhaariger ist zu sehen, mit schwarz-rotem Stern am grauen Jacket. Und ein Typ mit lackierten Fußnägeln in Sandalen, großer Zeh lila, der Rest pink. Peter Marcuse murmelt eine kaum zu verstehende Ansprache, Harold kommt hinzu, wird von seinem Vater hüfthoch umarmt, spricht davon, daß Utopie, Revolution, Leben und Tod ein Prozeß seien, mehrfach: ein Prozeß, ein Prozeß, ein Prozeß. Okay. Was soll man sonst sagen? Moishe Postone tritt hervor, stimmt das Kaddisch, das jüdische Trauergebet, an, die einzige anwesende Marcuse-Studentin aus den USA, Angela Davis, bewegt dazu die Lippen. Im Vorfeld hatte Peter Marcuse das Kaddisch abgelehnt,weil sein Vater sich für Religion nicht interessiert habe. Petra Pau guckt dazu noch fassungsloser dämlich als sonst. Anschließend Erdewerfen auf Marcuseasche. Die mit ihrem SAT1-Anchorman aufgetauchte Georgia Tornow ruft tatsächlich "Tschüß", während Eva Quistorp [about her] statt dessen wortlos eine aus vollgestopften durchsichtigen Plastiktüten hervorgezogene Sonnenblume ans Grab lehnt, denn sie hat die Grünen mitbegründet, wie sie mir später mitteilt. Marcuse zwar definitiv nicht, aber die Sonnenblume sei auch ein Symbol der kalifornischen Bewegung gegen Atomwaffen gewesen. Sollte auf jeder "Rama"-Packung vermerkt werden.

Im Versammlungssaal des Brecht-Hauses eröffnet Peter Marcuse wenig später ein sogenanntes Roundtable-Gespräch, bei dem alle irgendwie unhierarchisch in der Mitte sitzen. In der wahren Mitte steht das Kamerateam. Er verliest ein sympathisches Limerick ("there was a philosopher called Herbert / the school he belongs to was Frankfurt") in der Meinung, damit alles gesagt zu haben. [a very arrogant assessment, I must say!] War auch so, denn problematischerweise besteht schon seit Jahren die meiste Politik der radikalen Linken in Deutschland aus dem Erzählen von Anekdoten. Der bewußt privatistisch gehaltene Rahmen der Marcuse-Beerdigung transzendiert diese historische Schwäche in Richtung einer charmant-ehrlichen, küchenpartyähnlichen Materialsammlung, die auf jeden Fall besser ist als pathetisches Immer-voran-Gequatsche. Sozusagen die große Weigerung gegenüber einer Marcuse-Heiligungsindustrie, die es aber gar nicht gibt.

Harold Marcuse trägt einen Brief vor, den er als 16jähriger an eine konservative US-Zeitung schrieb, um klarzustellen, daß Herbert Marcuses Intention sich folgendermaßen zusammenfassen ließe: "to change the system without burning the books" ("Das System ändern, ohne Bücher zu verbrennen"). Peter-Erwin Jansen liest einen Brief Marcuses an Leo Löwenthal frisch aus dem US-Exil 1934, in dem er feststellt: "Englisch ist eine beschissene Sprache. Ich sage immer, wenn ich nichts verstehe: allright." Barbara Brick vom Frankfurter Marcuse-Archiv erinnert daran, daß Marcuse in den 70ern in Diskussionen über den Feminismus sehr geduldig gewesen wäre, nicht aber, wenn es um das Verhältnis von Theorie und Praxis ging, dann hätte er wie verwandelt ausgerufen: "Scheiße, das kann man so nicht sagen!" Angela Davis erzählt larifarisch, wie tief Marcuse sie beindruckt hätte und so weiter, bis Peter Marcuse darauf aufmerksam macht, daß Marcuses recht klein gehaltener Grabstein noch keine Inschrift trägt. Analog zu Brechts alten Grabstein-Wünschen wäre Herbert Marcuse eventuell mit diesem Vorschlag beizukommen: "Er hatte recht. Und wir haben es bemerkt."

Und dazu wurde von sehr vielen Leuten in einem kleinen Raum sehr viel geschwitzt. Herbert Marcuse schrieb in "Versuch über die Befreiung" (1969): "die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert".


prepared for the web by Harold Marcuse, July 29, 2003, Junge Welt comment added 4/14/04
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